© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/06 10. November 2006

Die Asozialisierung des Delinquenten
Volksverhetzung I: Prozeßauftakt gegen den mutmaßlichen Holocaust-Leugner Germar Rudolf / Auswirkungen des Paragraphen 130
Thorsten Hinz

Am 14. November wird vor dem Landgericht Mannheim der Prozeß gegen den 42 Jahre alten Diplomchemiker Germar Rudolf eröffnet. Seit einem Jahr befindet Rudolf sich in Untersuchungshaft. Laut Presseerklärung der Staatsanwaltschaft wird er beschuldigt, "im Internet und durch Verbreiten von Literatur den im Nationalsozialismus begangenen Völkermord an den Juden systematisch geleugnet bzw. verharmlost sowie durch antisemitische Äußerungen zum Haß gegen die jüdische Bevölkerung aufgestachelt zu haben". Rudolf, der damals am Max-Planck-Institut für Festkörperforschung an seiner Promotion arbeitete, verfaßte 1992 im Zuge eines anwaltlichen Beweisantrages ein - so das Internet-Lexikon Wikipedia - "Gutachten über die Bildung und Nachweisbarkeit von Cyanidverbindungen in den Gaskammern von Auschwitz. In diesem umstrittenen Rudolf-Gutachten behauptet er, den Gaskammern des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau Mauerproben entnommen und in den Gesteinsresten nur kleine Rückstände von Zyklon-B-Verbindungen gefunden zu haben, so daß damit keine Massenmorde an Menschen stattgefunden haben könnten." Als er dieses Gutachten veröffentlichte, geriet er selber ins Visier der Behörden. Um einer 14monatigen Haftstrafe zu entgehen, flüchtete er 1996 nach Spanien und in die Vereinigten Staaten, die ihn im November 2005 auslieferten.

Maßgeblich dafür ist der 1994 eingeführte Volksverhetzungs-Paragraph 130, der die Aufstachelung zum Haß gegen Teile der Bevölkerung unter Strafe stellt. Sein Herzstück, der Abschnitt 3, lautet: "Mit Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren oder Geldstrafe wird bestraft, wer eine unter der Herrschaft des Nationalsozialismus begangene Handlung der in § 220a Abs. 1 bezeichneten Art (Völkermord - Thorsten Hinz) in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, öffentlich oder in einer Versammlung billigt, leugnet oder verharmlost."

Rudolfs wissenschaftliche und berufliche Karriere war schnell am Ende. Das Max-Planck-Institut sprach ihm 1993 die fristlose Kündigung aus, und die Zivilgesellschaft zeigte sich couragiert. Sein neuer Arbeitgeber wurde unter Druck gesetzt, ihn ebenfalls zu entlassen, desgleichen der Vermieter seiner Wohnung. Die Kündigung erfolgte, als seine Ehefrau im achten Monat schwanger war. Die nächste Wohnung wurde dem Paar während der zweiten Schwangerschaft gekündigt. Rudolfs Verhaftung in den Vereinigten Staaten erfolgte wegen des Verdachts der Scheinehe, nunmehr mit einer Amerikanerin, mit der er ein gemeinsames Kind hat.

Polizeilicher und juristischer Verfolgungsdruck sind eine psychische Belastung und ein gesellschaftliches Stigma für den Betroffenen, erst recht, wenn er durch mehrere Hausdurchsuchungen öffentlich wird. In seinem Fall steigerten die zivilgesellschaftlichen Aktivitäten diesen Zustand bis zum gesellschaftlichen und sozialen Tod, der einem Menschen eigentlich nur noch übrigläßt, ihn durch eigene Hand physisch zu besiegeln. Dieses Ineinander von juristischen und polizeilichen Maßnahmen und mitmenschlicher Härte ist nicht gesetzlich fixiert, aber real und abrufbar. Die anerkannte Praxis, die selbst Mördern die Chance auf Resozialisierung eröffnet und deren Angehörige im Schutze geschriebener und ungeschriebener Gesetze beläßt, erlebte eine Umkehrung durch die konsequente Asozialisierung des Delinquenten und die Sanktionierung Dritter (Ehefrau, Kinder, Arbeitgeber, Vermieter). Mit der Zerstörung der Familie, der gesellschaftlichen Bindungen und sozialen Schutzhüllen wurde Rudolf außerhalb der Welt gestellt. So behandelt man keinen bloßen Gesetzesbrecher, sondern jemanden, in dem man einen totalen Feind erblickt, der eliminiert gehört!

Exemplarische Bedeutung der Feindbestimmung

Früher sprach man von Vogelfreiheit, heute wäre von gesellschaftlichem Ausnahmerecht zu reden. Rudolfs Person und der Sinn beziehungsweise Unsinn seiner Unternehmungen (die Staatsanwaltschaft spricht von einen "naturwissenschaftlich aufgemachten Scheingutachten") sind hier nicht das Thema.

Es geht um die exemplarische Bedeutung der Feindbestimmung, die an ihm exekutiert wird. Seine Behandlung intendiert eine politisch-gesellschaftliche Erziehungsmaßnahme. Deren Wirkung ist daran ablesbar, daß niemand wagt, sie aus der Zone des Beschweigens zu holen. Sie lüftet den Vorhang, hinter dem der Leviathan lauert. Der Ausnahmefall offenbart nach Carl Schmitt das Wesen der Autorität am klarsten. "Hier sondert sich die Entscheidung von der Rechtsnorm, und (um es paradox zu formulieren) die Autorität beweist, daß sie, um Recht zu schaffen, nicht Recht zu haben braucht." Schmitts Ausnahmefall bleibt freilich auf den Normalzustand bezogen. Die Norm soll dadurch wieder anwendbar werden, daß ihre Wirkung zeitweilig aufgehoben wird.

Das führt zurück zum Paragraphen 130, zu seinen Implikationen und Auswirkungen. Wer gegen ihn verstößt, hat, wie wir sehen, mit dramatischen Folgen zu rechnen. Daraus läßt sich schließen, daß Bedeutung und Symbolik der im Paragraph 130 umrissenen "Handlungen" als entsprechend wichtig für die geistig-politische Verfassung und Stabilität des Gemeinwesens angesehen werden. Den Inhabern der Deutungshoheit über sie wächst als Tabuwächtern eine priesterliche und zugleich politische Macht zu, die kaum kontrollier- und begrenzbar ist.

Denn der Straftatbestand der "Volksverhetzung" durch Billigung, Leugnung oder Verharmlosung historischer Ereignisse ist interpretier- und dehnbar je nach politischer Wetterlage. Viel von der internen DDR-Kritik zum Beispiel, die nach dem berüchtigten "Boykotthetze"-Artikel oder als "Öffentliche Herabwürdigung" geahndet wurde, liest sich heute wie eine Verharmlosung der SED-Diktatur.

Die Frage nach dem Souverän

Geist und Exekution des Paragraphen 130 berührt Grundrechte. So die von Artikel 5 des Grundgesetzes garantierte Meinungsfreiheit, das für jedermann gewährleistete Recht, sich ohne Zwang und Druck eine eigene Meinung zu bilden, diese zu äußern und zu verbreiten. Gleiches gilt für die Informationsfreiheit, die ihr vorangeht, das Recht, sich aus allen zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Ohne diese Grundrechte ist die demokratische Willensbildung eine leere Behauptung.

Berührt sind die Freiheit der Presse und die der Wissenschaft. Für letztere ist jede Wahrheit nur eine vorläufige und unterliegt damit einer ständigen Revision. Längst entfaltet der Paragraph 130 auch in politischen Debatten sein Drohpotential. Die früheren Bundestagsabgeordneten Jürgen Möllemann und Martin Hohmann wurden mit Anzeigen wegen des Verdachts der Volksverhetzung überzogen.

Auch die Kunstfreiheit wird angefochten. Gerade erstattete das Europäische Zentrum für Antiziganismusforschung in Hamburg gegen den britischen Comedy-Star Sacha Baron Cohen Strafanzeige wegen des Verdachts der Volksverhetzung in seinem neuen Film "Borat" (JF 45/06). Wie es um das Post- und Fernmeldegeheimnis bestellt ist, möchte man lieber gar nicht wissen. Der Paragraph 130 verbreitet Furcht und lädt ein zur Denunziation.

Furcht, Zensur und Selbstzensur durchziehen die Sprache, das Denken und Handeln. Was aber ist unter solchen Umständen die Ausnahme, was noch die Regel? Der italienische Philosoph Giorgio Agamben hat Schmitts Theorie des Ausnahmezustands radikalisiert und den Zustand der "Anomie" (Gesetzlosigkeit) als neues Paradigma der Demokratien beschrieben. Rechtsstaat und Demokratie seien Fassaden, hinter denen die "Ausnahme zur Regel" wird.

Eine Ahnung davon vermittelten die "Aufstände der Anständigen". Rechtsextremisten, schallte es da, seien die Wohnung, der Arbeitsplatz, das Konto und der Führerschein zu entziehen, die Steuerfahndung sei mobil zu machen.

Die Frage, ob Germar Rudolf die Ausnahme darstellt oder eine - noch - unterirdische Regel, liegt auf der Hand. Agamben spricht von der gefährlichen Verschränkung der "normativen Tendenz", die zu einem System aus Normen und Gesetzen führt, und einer "anomischen Tendenz, die in den Ausnahmezustand oder in die Idee des Souveräns als lebendes Gesetz mündet, in dem eine aller Normen bare (Gesetzes)kraft (...) handelt".

Damit sind wir bei der Kernfrage: Wer ist in der Bundesrepublik eigentlich der Souverän?


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