© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/06 10. November 2006

BRIEF AUS BRÜSSEL
Türkei - kein Weg in die EU
Andreas Mölzer

Die EU-Kommission hat mit ihrem "Fortschrittsbericht" ein weiteres Dokument über die Türkei veröffentlicht. Allerdings befaßt sich dieser nicht mit den von der Türkeilobby immer wieder gepriesenen Fortschritten, sondern der faktische Mängelbericht zeigt Ankaras fehlende Europareife schonungslos auf. So scheinen Mißhandlungen und Folter noch immer Teil des türkischen Alltags zu sein. Die Situation der Kurden und Christen ist nach wie vor von einem Zustand weitgehender Rechtlosigkeit gekennzeichnet. Zudem zeigen die nicht enden wollenden Unruhen in Ostanatolien, daß das Pulverfaß des Kurdenkonflikts jederzeit in die Luft fliegen kann.

Auch die Lage im benachbarten Irak, wo die Kurden nach Unabhängigkeit streben (JF 45/06), wirkt alles andere als stabilisierend auf das Land. Abgerundet wird das düstere Bild vom türkischen Rechtsstaat durch die Feststellung, daß die Unabhängigkeit der Justiz nicht gewährleistet ist. Der berüchtigte Paragraph 301 des türkischen Strafgesetzbuches, der die "Beleidigung des Türkentum" unter Strafe stellt, bleibt für Ankara ein unantastbares politisches Dogma.

Auch der noch immer bestehende, außerordentlich starke Einfluß des Militärs auf die Politik des Landes läßt berechtigte Zweifel an der demokratischen Reife der Türkei aufkommen. In diesem Zusammenhang aber zu glauben, eine Beschneidung der Rolle der Armee könne das islamische Land auf einen Schlag in eine mustergültige Demokratie verwandeln, wäre eine verhängnisvolle Verkennung der politischen Realitäten. Denn die Armee sieht sich, in der Tradition Atatürks stehend, als Garant für den laizistischen Staatsaufbau, so daß ihre mögliche Entmachtung nichts anderes als die Beseitigung des letzten Hindernisses auf dem Weg zur vollständigen Islamisierung der Türkei wäre. Wie realistisch diese Annahme ist, belegen Aussagen des türkischen Präsidenten Ahmet Necdet Sezer, der eindringlich vor der "fundamentalistischen Gefahr" gewarnt hatte.

Wie weit die Türkei geistig-kulturell von Europa entfernt ist, zeigt auch eine aktuelle türkische Meinungsumfrage. Demnach sehen die türkischen Bürger nicht in den EU-Mitgliedstaaten "Freunde" ihres Landes, sondern in den benachbarten islamischen Staaten. Die seit Jahrhunderten bestehende mentalitätsmäßige Verankerung im Orient ist auch am Beginn des 21. Jahrhunderts weiterhin gegeben. Dieser Ansicht dürfte auch der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan sein, der obendrein ein vorbehaltloser Verfechter des Kopftuches ist: Immerhin regte er beim Zehnten Türkischen Kongreß, der von der türkischen Regierung in Antalya veranstaltet wurde, die Gründung einer Gemeinschaft türkischsprachiger Staaten an.

Der neue "Fortschrittsbericht" der Brüsseler Behörde zeigt, daß nun offenbar auch in der EU-Zentrale die Türkei-Skepsis Einzug gehalten hat, was gleichzeitig eine quasi EU-amtliche Bestätigung der Beitrittsgegner ist. Denn bislang tat sich die EU-Kommission bekanntlich als Sprachrohr der Erweiterungsfanatiker hervor. Für Brüssel gilt es nun, dem Unbehagen gegenüber einer Aufnahme Ankaras Taten folgen zu lassen: also die Beitrittsverhandlungen sofort abzubrechen und nach neuen Formen der Zusammenarbeit mit der Türkei zu suchen.

 

Andreas Mölzer ist Chefredakteur der Wiener Wochenzeitung "Zur Zeit" und seit 2004 FPÖ-Europaabgeordneter.


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