© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/06 10. November 2006

WIRTSCHAFT
Vorenthaltene Bildung
Jens Jessen

Im Oktober ergriff SPD-Chef Kurt Beck eine für Sozialdemokraten ungewöhnliche gesellschaftspolitische Initiative. Statt Klassenkampf forderte er eine Debatte über die "Unterschichtsproblematik" in der Gesellschaft. Die vertikale Durchlässigkeit der Schichten sei weitgehend verlorengegangen. Jahrzehntelang haben die Volksparteien den Leistungsgedanken verteufelt. "Schule muß Spaß machen" ist dafür das Synonym. Wissen zu besitzen ist schön. Wissen zu erwerben dagegen macht nicht immer Spaß. Deshalb konnte über die Hälfte der 15jährigen Hauptschüler bei der Vergleichsstudie Pisa 2003 die gestellten Aufgaben nur unvollständig oder gar nicht lösen. Bei dem Lieblingsprojekt Integrierte Gesamtschule scheiterte jeder vierte Schüler - am politisch nicht korrekten Gymnasium lediglich einer von 143. 2004 verließ jeder neunte Hauptschüler die Schule ohne Abschluß. In Berlin ("arm, aber sexy") war es jeder Dritte, in Baden-Württemberg jeder Sechzehnte.

Das heißt aber nicht, daß der Hauptschulabschluß mehr Chancen bietet. Häufig wird den Schülern das nötige Wissen vorenthalten. Die Folge ist eine mangelhafte Schulbildung die dazu führt, daß die Schüler am Ausbildungs- und Arbeitsmarkt nur schwer zu vermitteln sind. In Deutschland werden ganz bewußt Jugendliche von der Bildung ferngehalten. Sie sind nicht immer faul oder dumm, sondern Opfer, aus denen sich die Unterschicht bildet. Ihnen wird die Chance verbaut, ihr Milieu zu verlassen. Die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung mit dem Titel "Gesellschaft im Reformprozeß" hat ermittelt, daß acht Prozent der Bevölkerung zum dauerhaft "abgehängten Prekariat" gehören. Mit ihrer "Spaßgesellschaft" haben sich beide jetzt regierenden Volksparteien an diesen Menschen schuldig gemacht.


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