© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/06 10. November 2006

Erst die Bomben, dann der Fortschritt
Architektur: Mit seiner Dokumentation der "Zweiten Zerstörung" schließt Edgard Haider eine Lücke
Wiebke Dethlefs

Verlorene Pracht - Geschichten von zerstörten Bauten" heißt ein kürzlich erschienenes, sehr interessantes Buch des österreichischen Journalisten Edgard Haider. Es stellt an die vierzig im Krieg zerstörte Profanbauten vom Barock bis zur Moderne vor, wobei deren baugeschichtliche Entwicklung sehr genau recherchiert, wie auch das Schicksal ihrer Architekten bzw. Bewohner detailliert dargestellt ist.

Das Buch ist eine hervorragende Ergänzung zweier anderer, leider nur noch antiquarisch erhältlicher Werke des Autors ("Verlorenes Wien - Adelpaläste vergangener Tage", Böhlau 1984, und "Versunkenes Deutschland - Auf den Spuren kriegszerstörter Residenzen und Palais", Böhlau 1989). In all diesen drei Werken ist Haiders besonderes Anliegen, das Bewußtsein um das Verlorene gegenwärtig bleiben zu lassen, doch auch "sachliche Recherche mit leiser Trauer um vergangene Pracht" zu verbinden, wie bereits an den Attributen "verloren", "versunken" unüberhörbar deutlich wird.

Haider legt in seinem neuen Buch einen Schwerpunkt auf durch den Krieg nur teilzerstörte bzw. unbeschädigte Bauwerke, die dann aber in der Nachkriegszeit entweder aus ideologischen Gründen (unter anderem Schloß Putbus, Schloß Sachsenhausen) oder im Rahmen einer neuen Bauphilosophie der "autogerechten, entkernten, sachlichen" Stadt der Spitzhacke zum Opfer fielen (sogenannte Zweite Zerstörung). Man erfährt über den brachialen Abriß von architektonisch bedeutsamen Gebäuden, die durchaus wiederherstellbar waren, wobei eine eventuelle Rekonstruktion nicht einmal in Erwägung gezogen wurde (Altes Rathaus Stuttgart, Kaufhaus Schocken Stuttgart u.a.). Und im Westen war wie im Osten eine Ideologie dafür verantwortlich, eine Ideologie, in der man die Pracht von einst als fortschrittsfeindlich empfand, als Zeugnis einer Vergangenheit, die es nun zu überwinden galt, um endlich über den "American Way of Life" in die Zukunft zu gelangen. Daß diese "Geschichtslosigkeit auch Gesichtslosigkeit bedeutet", kam als Erkenntnis dabei zu spät, wie Haider in seinem nachdenklich machenden Vorwort ausführt.

Im Westen wie im Osten war die Ideologie schuld

Sein Buch schließt damit eine bedeutende Lücke auf dem Buchmarkt. Denn während es Bestandsaufnahmen deutscher Kriegsschäden - zumindest für die Gebiete westlich Oder und Neiße - teils auch als Publikation von Einrichtungen des Bundes bereits gibt, blieb die sogenannte "Zweite Zerstörung" (sieht man einmal von Untersuchungen über Dresden ab) bisher weitgehend unberücksichtigt. Die Geschichte des Pellerhauses in Nürnberg, die Schicksale des Schlosses Zerbst in Sachsen-Anhalt, der Kroll-oper in Berlin, des Wiener Palais Rothschild, des Sitzes des Norddeutschen Lloyd in Bremen werden neben zahlreichen anderen Bauwerken in anschaulicher Sprache dargestellt. So anschaulich, daß man Appetit auf eine umfassende, substantielle Bestandaufnahme der "Zweiten Zerstörung" bekommt, die eben bisher fehlt. Anrührend sind biographische Darstellungen beispielsweise des Kaufmanns Georg Wertheim oder der Gebrüder Weinberg aus Frankfurt a.M. (Villa Waldfried und Haus Buchenrode), deren Leben 1943 in Theresienstadt endete.

Ganz anders nachdenklich machend ist die Geschichte zweier aufgeführter außerdeutschen Bauwerke, der Neuen Tonhalle in Zürich und des Hotels Bear in Grindelwald, die beide nicht durch Kriegseinwirkungen, sondern ganz vordergründig durch Brandstiftung bzw. durch bloßes Unbehagen an "überkommenen" Architekturformen verschwanden.

Viele bisher kaum bekannte historische Aufnahmen der verschwundenen Bauwerke machen über den Umfang des durch willkürlichen Abriß entstandenen Verlustes betroffen. Zu wünschen allerdings wären Bilder der einzelnen Objekte während der jeweiligen Abtragung, auch aktuelle Aufnahmen des vormaligen Standortes der einzelnen Bauwerke wären eine willkommene Vervollkommnung. Die näheren, äußeren Umstände der einzelnen Abtragungen, wie auch eine knappe Darstellung, wie beispielsweise in der Bevölkerung der Abriß jeweils aufgenommen bzw. diskutiert wurde sind leider zu kurz gekommen.

Dennoch: Das ansonsten vorzüglich gestaltete Buch läßt einmal mehr erahnen, wie groß das Ausmaß der Katastrophe von 1945 wirklich war - daß sie mehr war als eine vordergründige Zerstörung. Sie veränderte das Bewußtsein der Deutschen auch dahin, daß man fünfzehn, fünfundzwanzig Jahre nach Kriegsende in völliger Verkennung jedes geschichtlichen Wertes sich von den "Resten kleinbürgerlicher, provinzieller Enge" glaubte befreien zu müssen, wie man es beispielsweise mit dem Niederreißen des teilzerstörten Braunschweiger Stadtschlosses noch in den sechziger Jahren beging.

Das Buch läßt, mit jeder Seite, mit jedem Foto mehr, jenes Gefühl der Traurigkeit wachsen, daß die deutsche Geschichte 1945 tatsächlich zu Ende war. Was danach kam, ist aufgrund der verinnerlichten Geschichtslosigkeit nur ein Aufblähen, einem Roten Riesen der Astronomie gleich. Doch was nach gewisser Zeit aus einem solchen wird, ist ja hinreichend bekannt.

Edgard Haider: Verlorene Pracht. Geschichten von zerstörten Bauten. Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2006, gebunden, 192 Seiten, 90 Abbildungen, 29,90 Euro


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