© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/06 10. November 2006

Staatsfeind Nummer eins
Vor dreißig Jahren wurde Wolf Biermann aus der DDR ausgebürgert / Beginn der Entfremdung zwischen "Kulturschaffenden" und SED
Paul Leonhard

Vor dreißig Jahren ist der Liedermacher Wolf Biermann, der am 15. November seinen 70. Geburtstag feiert, aus der DDR ausgebürgert worden. Die anschließenden Proteste prominenter Künstler und unbekannter Bürger leiteten letztlich den Untergang des SED-Staates mit ein. Die künstlerische Elite des Landes ging endgültig auf Distanz zum Regime. Viele verließen in den kommenden Jahren den realsozialistischen Teil Deutschlands. Sie gingen freiwillig auf Zeit oder für immer. Oder sie wurden wie der Liedermacher rausgeschmissen.

Biermann habe die DDR destabilisiert, "denn die Proteste gegen seine Ausbürgerung verdarben dem letzten Sympathisanten die Lust, diesen Staat für den besseren zu halten", schrieb die Süddeutsche Zeitung vor fünf Jahren. Aus linker, westdeutscher Sicht mag das stimmen, aus mitteldeutscher nicht. Denn die Auseinandersetzung mit Wolf Biermann, der sich selbst nach dem November 1976 noch als Kommunisten und die DDR als den besseren Teil Deutschlands bezeichnete, seinen Liedern und Gedichten setzte für viele DDR-Bürger erst mit dem Rausschmiß des Künstlers ein. Der Mann war zwar im Westen, aber seine Worte waren geblieben. Und erst durch die Anti-Biermann-Kampagne des ungeliebten Regimes wurden sie insbesondere unter Jugendlichen populär.

Einsamer Beschluß von Honecker und Mielke

Bis zur Ausbürgerung war Biermann, der bereits seit 1965 Auftrittsverbot hatte, in breiten Teilen der Bevölkerung kaum bekannt. "In der Mehrheit der Grundorganisationen wurde nach den ADN-Veröffentlichungen gefragt, wer denn dieser Biermann sei und was er sonst noch getan habe", heißt es in einer Aktennotiz des SED-Bezirksarchivs. Mit ihrer Kurzschlußreaktion nach dem Kölner Konzert hatte sich die Führung der Einheitssozialisten ein gefährliches Eigentor geschossen.

Biermann hatte seinerzeit die Falle gewittert, die ihm die SED stellte, als sie ihm das Ausreisevisum für einen Konzertauftritt auf Einladung der IG Metall genehmigte. "Sie werden es nicht wagen, dich auszusperren, denn es wird zu teuer für sie", hatte aber der Dissident Robert Havemann seinen Freund Biermann beruhigt. Dann aber wagte es das Regime doch: ein einsamer Beschluß von Staats- und Parteichef Erich Honecker und seinem Stasi-Minister Erich Mielke.

Die Nachricht in der "Aktuellen Kamera" am 16. November 1976 bestand aus einem Satz: "Die zuständigen Behörden der DDR haben Wolf Biermann, der 1953 aus Hamburg in die DDR übersiedelte, das Recht auf weiteren Aufenthalt in der Deutschen Demokratischen Republik entzogen." Da war der Auftritt des Liedermachers in Köln drei Tage her. Mehr als 8.000 Menschen hatten ihn gehört. In der DDR wurde das vierstündige Konzert vor allem durch eine Ausstrahlung der ARD und des Deutschlandfunks bekannt. Selbst in Dresden, dem "Tal der Ahnungslosen", schnitten Biermann-Fans die teilweise von russischsprachigen Sendungen gestörte Radioübertragung auf Kurzwelle mit Spulentonbändern mit. Kurze Zeit später kursierten die ersten Abschriften.

Durch die westdeutschen Medien und mündliche Mitteilungen wurde sehr schnell auch bekannt, daß 13 prominente Künstler unmittelbar nach Bekanntwerden der Ausbürgerung Biermanns gegen diese Maßnahme protestiert hatten. Franz Fühmann, Stefan Heym, Heiner Müller, Rolf Schneider und Erich Arendt sowie die acht SED-Mitglieder Sarah Kirsch, Christa Wolf, Volker Braun, Stephan Hermlin, Günter Kunert, Gerhard Wolf, Jurek Becker und Fritz Cremer baten die DDR-Regierung, den gefaßten "Beschluß ernstlich zu überdenken" und "auf einer Veranstaltung im Palast der Republik uns miteinander und mit Wolf Biermann (natürlich in eigener Person) auseinanderzusetzen".

Die Unterzeichner, denen sich bis zum 21. November mehr als hundert Künstler anschlossen, waren allesamt Persönlichkeiten, die unter den DDR-Bürgern einen hohen Stellenwert genossen. Das schmerzte die SED-Spitze, die zwar die Protestnote nie veröffentlichte, aber auf sie mit einer breiten Leserbrief-Kampagne in sämtlichen Zeitungen reagierte. Wer seine Nachrichten tatsächlich nur aus den DDR-Medien bezog, rieb sich plötzlich verwundert die Augen, weil er nur die Reaktionen las, aber nichts über die Ursachen erfuhr.

Geschlossene Gegenaktionen und Solidaritätserklärungen war die SED bis dahin von der gehätschelten Intelligenz nicht gewohnt. Nach einem Moment der Unsicherheit schlug das Politbüro zurück. Die protestierenden Schriftsteller Jurek Becker, Günter Kunert und Sarah Kirsch wurden aus den Reihen der SED gestrichen, Gerhard Wolf und Karl-Heinz Jacobs ausgeschlossen. Andere wie Christa Wolf, Stephan Hermlin und Volker Braun erhielten Rügen.

Drei Jahre später sollte es noch einmal in Zusammenhang mit Solidaritätsbekundungen für Stefan Heym zu Massenentlassungen aus dem Berliner Schriftstellerverband und Ausreisen kommen. Viel härter verhielt sich die Staatsmacht gegenüber nichtprominenten Protestlern. Allein zwischen dem 16. November und dem 8. Dezember 1976 registrierte die Staatssicherheit 1.096 "Hetzflugblätter" und 180 "Hetzlosungen". An Unterschriftensammlungen in den Bezirken Halle, Gera, Potsdam, Dresden, Erfurt, Leipzig, Karl-Marx-Stadt und Berlin hätten sich 497 Personen beteiligt. 400 Schreiben "feindlich-negativen Inhalts" seien an die Staatsorgane abgeschickt worden, konstatierten die Schlapphütte von Stasi-Minister Erich Mielke. Der ließ hart durchgreifen. Mehr als 100 DDR-Bürger wurden wegen "staatsfeindlicher Hetze" oder "Staatsverleumdung" verhaftet. Der Verfasser eines "Aufrufs an die Berliner Bürger", in dem gefordert wurde, Aktivkollektive zu bilden, Unterschriften zu sammeln und Eingaben zu machen, wurde beispielsweise zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt.

Nach Biermann begann das Ausbluten der DDR

Auch in den Folgejahren werden Oberschüler und Studenten wegen des Besitzes von Biermann-Texten von Bildungseinrichtungen verwiesen oder verurteilt. Tausende Namenloser, die nicht wie die Künstler im Scheinwerferlicht westlicher Medien standen, bezahlten ihren mutigen Protest teuer. Biermann blieb bis zum Ende der DDR der Staatsfeind Nummer eins.

Mit der Ausbürgerung Biermanns begann auch das Ausbluten der DDR. Nach den Künstlern stellten mehr und mehr Bürger Ausreiseanträge. Eine Bewegung, die immer weitere Kreise zog und schließlich in den beiden Strömungen des Jahres 1989 mündete: jenen Bürgern, die unter der Losung "Wir wollen raus" protestierten, und jenen, die unter dem Motto "Wir bleiben hier" die Revolution des Herbstes 1989 auslösten. Biermanns treffsichere, sprachgewaltige, bilderreiche, direkte Texte voller bitterer Wahrheiten haben die Menschen bis dahin begleitet.

Vierundzwanzig Jahre nach seinem Auftrittsverbot und dreizehn Jahre nach der Ausbürgerung durfte Wolf Biermann am 1. Dezember 1989 sein erstes Konzert in der DDR geben, in einer schaurig hallenden Leipziger Messehalle. Noch einmal rüttelte er auf, machte Mut.

Foto: Biermann mit Heinrich Böll nach der Ausbürgerung, 19. November 1976: Gefährliches Eigentor


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