© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/06 17. November 2006

Kolumne
Nachbarliche Freundschaft
Norbert Geis

Am Mittwoch letzter Woche stellte die EU-Kommission ihren Bericht zu den Beitrittsverhandlungen mit der Türkei vor. Darin wird die Verlangsamung des Reformprozesses kritisiert, dessen erfolgreicher Abschluß die Voraussetzung für die Aufnahme in die Europäische Union ist. Obwohl sie sich zur Anerkennung des EU-Landes Zypern verpflichtet hat, weigert sich die Türkei bis heute, ihre Flug- und Seehäfen Flugzeugen und Schiffen aus Zypern zu öffnen. Außerdem ergibt sich aus dem Bericht der Vorwurf, daß den nichtmuslimischen Minderheiten keine Religionsfreiheit gewährt wird und daß es um die Meinungsfreiheit schlecht bestellt ist.

Angesichts dieser deutlichen Kritik müßte sich auch bei den letzten Optimisten in Brüssel und Berlin die Erkenntnis einstellen, daß die Türkei die Beitrittsverhandlungen zur Europäischen Union nicht ernst nimmt. Selbstverständlich möchte das 90-Millionen-Volk an die Fleischtöpfe Europas. Unser Geld für den Aufbau ihres Landes - jährlich mindestens 25 Milliarden Euro auf Jahrzehnte hinaus - ist den Türken natürlich willkommen. Deshalb drängt Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan mit Macht nach Europa.

Von unserer Kultur aber wollen die stolzen Türken nichts wissen. Erdoğan lehnt als überzeugter Muslim ganz bewußt die von der jüdisch-christlichen Tradition geprägte abendländische Kultur ab. Despektierlich und beinahe beleidigend spricht er von Europa als "christlichen Club". Mit seinen Landsleuten hält er unsere Kultur für verbraucht und sieht bei uns nur noch eine Art "Zivilisation", deren technische und wirtschaftliche Errungenschaften für die Türkei nutzbar gemacht werden sollen. Unsere kulturellen Errungenschaften aber, die Achtung vor der unantastbaren Würde des Menschen, das Recht auf freie Entfaltung ohne staatliche Bevormundung und die Gleichstellung von Mann und Frau, die Religionsfreiheit, die Meinungsfreiheit und die Toleranz gegenüber Andersdenkenden werden zurückgewiesen.

Die türkische Identität ist geprägt von einem starken Nationalbewußtsein und von der sunnitisch-islamischen Religion. Davor können die Europäer nur Respekt haben. Wir sollten aber von der irrigen Vorstellung Abstand nehmen, mit diesem großen Land und seiner Kultur sei die Einheit Europas zu schaffen. Wir sollten nachbarliche Freundschaft mit der Türkei pflegen, aber nicht versuchen, sie in das europäische Haus zu holen.

 

Norbert Geis (CSU) ist Rechtsanwalt und Mitglied des Deutschen Bundestages.


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