© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/06 17. November 2006

Gesellschaft ohne Väter
Wo der Narzißmus blüht: Aus dem Wohlfahrtsstaat ist die Mutter Staat geworden
Alain de Benoist

Ohne jede Einschränkung und ohne Gegengewicht hat die Gesellschaft die femininen Werte zur Gänze übernommen", stellte jüngst der Kinderarzt Aldo Naouri fest. Von dieser Feminisierung zeugen bereits der Primat der Wirtschaft über die Politik, der Primat des Konsums über die Produktion, der Primat der Diskussion über die Entscheidung, der Verfall der Autorität zugunsten des "Dialogs", aber auch die Öffentlichmachung des Intimen im "Reality-TV", der Trend zu "humanitären" und Benefizveranstaltungen in den Medien, die ständige Betonung von Fragen der Sexualität, der Fortpflanzung und Gesundheit, die Obsession mit der Erscheinung, dem Gefallenwollen und der Sorge um das Selbst (aber auch die Gleichsetzung männlicher Verführung mit Manipulation und "Belästigung"), die Dominanz von Frauen in bestimmten Berufen (Bildungs- und Gerichtswesen, Psychologie, Sozialarbeit), der Markt des Emotionalen und des Mitleids, die Vergötzung des "Paares" und seiner "Beziehungsprobleme", der Geschmack an "Transparenz" und die Aufhebung aller Geschlechtertrennungen - nicht zu vergessen schließlich die Globalisierung selbst, die eine Form von Fluß und Rückfluß ohne Grenzen oder stabile Orientierungspunkte etabliert, eine flüssige, amniotische Welt.

Nach der schwer erträglichen "harten Kultur" der dreißiger Jahre hatte diese Feminisierung sicher nicht nur schlechte Seiten. Inzwischen jedoch schlägt das Pendel allzu stark in die gegensätzliche Richtung aus. Dies um so mehr, als sie gleichbedeutend ist mit einer Entmaskulinisierung, zur symbolischen Auslöschung der Vaterrolle und der Unterschiede zwischen den Geschlechtern im gesellschaftlichen Zusammenleben führt.

Die allgemeine Verbreitung der Lohnarbeit und die Entstehung der Industriegesellschaft bewirken, daß Männer heutzutage einfach keine Zeit mehr haben, sich um ihre Kinder zu kümmern. Der Vater ist im Laufe der Zeit auf eine ökonomische und administrative Rolle reduziert worden. Als "Papa" leistet er seelischen und emotionalen Beistand, stellt die Versorgung mit Konsumgütern sicher und eignet sich sowohl als Vollstrecker des mütterlichen Willens, Haushaltshilfe, Küchenjunge, Windelwechsler und Kinderwagenschieber.

Der Vater an sich symbolisiert das Gesetz als objektiven Bezugspunkt, der über den familiären Subjektivitäten steht. Während die Mutter primär die Welt der Gefühle und Bedürfnisse verkörpert, kommt den Vater die Rolle zu, das Band zwischen Kind und Mutter zu durchtrennen. Als diejenige Instanz, die es aus der narzißtischen Allmacht der Kindheit hinausführt, sorgt er dafür, daß das Kind seinen soziohistorischen Kontext kennenlernt und sich als Teil einer bestimmten Welt und Zeit versteht. Er gewährleistet "die Vermittlung des Ursprungs, des Namens, der Identität, des kulturellen Erbes und der zu erfüllenden Aufgabe" (Philippe Forget). Indem er die Brücke zwischen der privaten familiären und der öffentlichen Sphäre bildet, indem er mit seinem Gesetz der Begierde Schranken setzt, erweist er sich als unverzichtbar für die Konstruktion des Selbst. Heute aber drohen Väter zu "zweiten Müttern" zu werden. "Sie wollen ebenfalls Träger der Liebe und nicht mehr nur des Gesetzes sein" (Eric Zemmour). Indes fällt es dem Kind ohne Vater sehr schwer, Zugang zur symbolischen Welt zu finden. Auf der Suche nach sofortigem Wohlbefinden, ohne das Gesetz konfrontieren zu müssen, wählt es ganz von alleine den Einstieg über die Sucht nach Konsumgütern.

Ein weiteres Merkmal der späten Moderne ist die Ununterscheidbarkeit männlicher und weiblicher Aufgabenbereiche. Dadurch werden Eltern zu flottierenden Subjekten, ihre Rollen verwirrend und alle Koordinaten instabil. Die Geschlechter sind komplementäre Antagonisten, das heißt, sie ziehen sich gleichzeitig gegenseitig an und stoßen einander ab. Die Aufhebung der Unterschiede, die der Hoffnung geschuldet war, die Beziehungen zwischen den Geschlechtern friedlicher zu gestalten, führt zum Verschwinden dieser Beziehungen. Die Forderung nach Elternschaft für gleichgeschlechtliche Paare (die das Kind der Mittel beraubt, seine Familienmitglieder zu identifizieren, und die Bedeutung der Abstammung für die Konstruktion seiner Psyche leugnet), verwechselt sexuelle Identität (derer gibt es nur zwei) mit sexueller Orientierung (derer es eine Vielzahl geben kann). Sie läuft darauf hinaus, vom Staat zu verlangen, daß er Gesetze fabriziert, um Sitten für legitim zu erklären, Triebe legalisiert und der Begierde eine institutionelle Garantie verschafft - was nicht seine Aufgabe ist.

Paradoxerweise ist die Privatisierung der Familie einhergegangen mit ihrer Invasion durch den "therapeutischen Apparat" der Sachverständigen und Experten, Berater und Psychologen. Diese "Kolonisierung des Innenlebens" unter dem Vorwand einer Rationalisierung des Alltags hat den Trend zur medikamentösen Behandlung des Daseins ebenso verstärkt wie die Entmündigung der Eltern und die staatlichen Möglichkeiten zur Überwachung und Disziplinierung. In einer Gesellschaft, die vermeintlich in ewiger Schuld gegenüber den Individuen steht, in einer Republik, die zwischen Gedenken und Mitleid oszilliert, ist aus dem Wohlfahrtsstaat als Zuständigem für die Verwaltung sozialen Elends durch Gesundheits- und Sicherheitsbehörden die Mutter Staat geworden: eine Gesundheitsfanatikerin, die "Beistandsbotschaften" an eine Gesellschaft unter der Glashaube verkündet. Diese vom Matriarchat des Marktes beherrschte Gesellschaft ist es, die sich nun über die "archaische" Virilität der Banlieues empört und sich über deren Verachtung wundert.

All das ist jedoch offenkundig nur die gesellschaftliche Fassade, hinter der sich die Realität ungleicher Löhne und mißhandelter Frauen verbirgt. Die aus dem öffentlichen Diskurs verbannte Härte entlädt sich hinter den Kulissen um so heftiger, und die soziale Gewalt wütet vor dem Horizont des Reichs des Guten. Die Feminisierung der Eliten und der Platz, den die Frauen sich in der Arbeitswelt erkämpft haben, führten nicht zu mehr Anteilnahme, mehr Toleranz, mehr gegenseitiger Rücksicht, sondern lediglich zu mehr Heuchelei. In der Sphäre der Lohnarbeit herrschen mehr als je zuvor einzig die Gesetze des Marktes, die darauf abzielen, daß Investitionen endlos lukrative Gewinne abwerfen. Der Kapitalismus hat Frauen bekanntlich immer ermuntert zu arbeiten, um so die Löhne der Männer zu drücken. Von den 3,4 Millionen Menschen, die derzeit in Frankreich unterhalb des gesetzlichen Mindestlohns von 8,27 Euro brutto arbeiten, sind 80 Prozent Frauen.

In jeder Gesellschaft treten psychologische Phänomene zutage, die sich auch auf persönlicher Ebene beobachten lassen. Ende des neunzehnten Jahrhunderts trat die Hysterie vermehrt auf, zu Beginn des zwanzigsten die Paranoia. Die gängigste Form von Pathologie in den westlichen Staaten der Gegenwart scheint ein zivilisatorischer Narzißmus zu sein, der insbesondere in der Infantilisierung der Akteure zum Ausdruck kommt, einer unreifen Existenz, einer Angst, die oft Depression auslöst. Jedes Individuum hält sich für den Mittelpunkt des Universums, die Suche nach dem Selben überwiegt gegenüber dem Sinn der Unterschiede zwischen den Geschlechtern, das Verhältnis zur Zeit beschränkt sich auf den Augenblick. Aus Narzißmus entsteht die Einbildung der Selbsterzeugung in einer Welt ohne Erinnerungen oder Verheißungen, wo Vergangenheit und Zukunft beide unter einer immerwährenden Gegenwart begraben sind, wo ein jeder sich selber für das Objekt seiner Begierde hält und meint, sich den Folgen seines Handelns entziehen zu können.


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