© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/06 17. November 2006

LOCKERUNGSÜBUNGEN
Investoren
Karl Heinzen

Der Berliner Zeitung zufolge weist der Bundesnachrichtendienst (BND) in einem nun nicht mehr geheimen Bericht darauf hin, daß sich die ursprünglich im süditalienischen Kalabrien beheimatete Mafiaorganisation 'Ndrangheta jetzt auch in Deutschland festgesetzt hat. In der Vergangenheit wurde die Bundesrepublik von diesem traditionsreichen Netzwerk kooperierender Familienbetriebe lediglich als Transitland für den Drogen- und Waffenhandel betrachtet. Unterdessen hat es offenbar die Möglichkeiten erkannt, die der deutsche Standort auch für langfristig ausgerichtetes unternehmerisches Engagement bietet. So vermutet der BND, daß die 'Ndrangheta einen zweistelligen Millionenbetrag in Hotels, Gaststätten und ähnliche Projekte zur touristischen Erschließung attraktiver Regionen in den einstmals neuen Bundesländern investiert hat. Darüber hinaus wird ihr nachgesagt, an der Frankfurter Börse als Käufer von größeren Wertpapierpaketen aufgetreten zu sein. Ihr besonderes Interesse soll sich hier auf Energieunternehmen gerichtet haben.

Naturgemäß will der BND seinen Bericht als Warnung vor etwas verstanden wissen, was er als "organisierte Kriminalität" bezeichnet. Durch die Verwendung dieses Begriffs enthüllt er jedoch unfreiwillig, wie antiquiert seine Vorstellungen sind. In einer globalisierten Welt haben solche Klischees und Pauschalverurteilungen längst keinen Platz mehr. Es dürfte nämlich kein allzu seltenes Phänomen sein, daß transnational aufgestellte Unternehmen bei uns zwar weitestgehend gesetzestreu auftreten und daher zu Recht ein gutes Renommee genießen, in anderen Ländern aber, zumal in solchen der sogenannten "Dritten Welt", mit Methoden operieren, die jenen der 'Ndrangheta in kaum etwas nachstehen.

Wer auf der einen Seite Konzerne hofiert und auf anderen die "Mafia" verfolgt, legt aber nicht bloß zweierlei Maß an, sondern schreckt auch Investoren ab, auf die unser Land dringend angewiesen ist. Zudem sagt die Erfahrung, daß "kriminelle Organisationen" vor allem dann Gefahr laufen, auf eine Eskalation der Gewalt zu verfallen, wenn ihnen zuvor die Chance zur Legalität systematisch verweigert wurde. Das erkennbare Bemühen der 'Ndrangheta, aus der Schattenwirtschaft herauszutreten, sollte man daher begrüßen und nicht diffamieren.

Natürlich ist der Vorwurf, sie betreibe hier Geldwäsche, nicht ganz unbegründet. Sind denn aber die anderen großen Vermögen in unserem Land wirklich allesamt auf so ehrenwerte Weise entstanden, daß man sich hierüber aufregen dürfte?


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