© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/06 17. November 2006

Die Lebensfahrt in den Tod
"Wildgänse rauschen ...": Das auf Walter Flex zurückgehende Lied kann zur Erinnerung an die Weltkriegstoten beitragen
Manfred Müller

Wildgänse rauschen durch die Nacht ...." Fragt man Bekannte, was es mit diesem Lied auf sich habe, erhält man, wenn der Befragte es kennt, am ehesten die Antwort: ein Fahrtenlied, passend zur Lagerfeuer-Romantik. Vor neunzig Jahren erschien dieses Gedicht in Liedrom als Bestandteil einer Erzählung aus der Feder des Kriegsfreiwilligen und Reserveleutnants Walter Flex (1887-1917). "Der Wanderer zwischen beiden Welten. Ein Kriegserlebnis" wurde bald zu einem Kultbuch der Jugend, dessen Rezeptionsgeschichte Glanz und Elend deutschen Daseins im 20. Jahrhundert widerspiegelt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg fiel das Büchlein, bedingt durch inszenierte kollektive Verdrängungsprozesse, fast dem Vergessen anheim, wären da nicht Kenner und Liebhaber gewesen, die dafür sorgten, daß 1966 die Druckauflage die Millionengrenze erreichte. Das Lied, losgelöst von der Erzählung, fand wegen der sehr ansprechenden Vertonung von Robert Götz Eingang in zahlreiche Liederbücher.

Das vermeintliche Fahrtenlied steht auf der zweiten Seite der stark autobiographischen Erzählung von Walter Flex. Der Ich-Erzähler, Angehöriger eines schlesischen Infanterieregiments, liegt in einer stürmischen Vorfrühlingsnacht auf Horchposten an der lothringischen Westfront des Ersten Weltkrieges. Über die "granatenzerpflügte Waldblöße" ziehen im "flackernden Helldunkel", hervorgerufen durch Scheinwerfer und Leuchtkugeln, Wildgänse in großer Zahl am Himmel dahin gen Norden. Auf einem Fetzen Papier notiert der junge Offizier einige Strophen:

Wildgänse rauschen durch die Nacht / Mit schrillem Schrei nach Norden -/ Unstete Fahrt! Habt acht, habt acht!/ Die Welt ist voller Morden.

Fahrt durch die nachtdurchwogte Welt,/ Graureisige Geschwader!/ Fahlhelle zuckt, und Schlachtruf gellt,/ Weit wallt und wogt der Hader.

Rausch' zu, fahr' zu, du graues Heer/ Rauscht zu, fahrt zu nach Norden!/ Fahrt ihr nach Süden übers Meer -/ Was ist aus uns geworden!

Wir sind wie ein graues Heer/ Und fahr'n in Kaisers Namen,/ Und fahr'n wir ohne Wiederkehr, / Rauscht uns im Herbst ein Amen!

Die suggestive Wirkung dieses Textes geht von Bildwahl, Rhythmus und erzeugter Stimmung aus. Im Blick auf die Wildgänse vergewissert sich der feldgraue Frontsoldat seiner schicksalhaften Lebensfahrt, die für ihn wie für viele seiner Kameraden zur Fahrt in den Tod werden kann. Die "graureisigen Geschwader" (Reisige: ein sehr altes Wort für berittene Krieger) verweisen auf die Welt der altgermanisch-altdeutschen Heldendichtung, deren Heroen mit todesverachtendem Mut im Kampf dem Schicksal entgegentreten.

Aber trotz der archaisierenden Sprachgestaltung wird nicht ganz verdrängt, daß hier Weltkriegssoldaten in einem Kampf auf Leben und Tod stehen: "Die Welt ist voller Morden." Damit droht jede positive Sinngebung des Soldatentums verlorenzugehen; man könnte sich an den Slogan "Soldaten sind Mörder" erinnert fühlen.

In diesen Versen gelingt die Sinngebung nur noch, indem sie in eine Art Requiem für die gefallenen pflichtgetreuen Kämpfer einmünden. Das "Amen", das "So sei es", setzt in diesem Kontext Worte der christlichen Totenliturgie voraus: "Herr, gib ihnen die ewige Ruhe und das ewige Licht leuchte ihnen." (Requiem aeternam ...) Nur in diesem Sinne kann aus dem Flügelschlag der zurückkehrenden Wildgänse ein "Amen" herausgehört werden.

Der Musikpädagoge Ernst Klusen hat 1980 "Wildgänse" in seine repräsentative Sammlung "Deutsche Lieder" (erschienen im Insel Verlag) aufgenommen. Dieses seit Jahrzehnten von jungen und alten Deutschen gesungene Lied paßt nach Intensität der Aussage und Qualität der Vertonung in diese Sammlung. Klusen: "Lieder antworten auf alles, was das Leben an den Menschen heranträgt: natürlich auf das Schöne, das Erhebende, das Liebe und das Lustige, aber ebenso natürlich auf das Dunkle, die Verzweiflung, die Furcht und die Bosheit."

Wenn heute noch die "Wildgänse" angestimmt werden, bleibt zu hoffen, daß ein wenig von der melancholischen Erinnerung an unsere Weltkriegstoten, sofern diese ehrenhaft gekämpft haben, mitschwingt, von den Singenden erahnt oder begriffen wird. Zur Erinnerungskultur eines jeden selbstbewußten Volkes gehört ein würdiges Totengedenken. Das Lied von Walter Flex, gefallen 1917, kann zu einem solchen Erinnern beitragen.


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