© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/06 17. November 2006

Abstieg eines Wunderlandes
Der Münchner Wirtschaftshistoriker Michael von Prollius über das Wirtschaftsmodell nach 1945 und was daraus wurde
Hans-Peter Müller

Jüngst ist viel die Rede von "Verwahrlosung". Auch in der Wirtschaftspolitik ist eine krasse ordnungspolitische Verwahrlosung festzustellen. Die heutige deutsche Wirtschaftsordnung hat nur noch wenig mit dem freiheitlichen Entwurf gemein, den Ludwig Erhard und die Ordoliberalen nach 1945 vorlegten. In seiner sehr dichten Wirtschaftsgeschichte verfolgt der Historiker Michael von Prollius die Spur dieser allmählichen Verwahrlosung. Es ist die Degeneration eines Ideals, das als leistungsanspornende Wettbewerbsordnung erdacht wurde, doch über die Jahrzehnte zur leistungshemmenden Verteilungsordnung verkam. Je mehr die Freiräume der Wirtschaft schrumpften, desto mehr gingen Dynamik und Anpassungsfähigkeit verloren. Die Folge sind Massenarbeitslosigkeit und Überschuldung, so Prollius.

Der Autor strukturiert den Stoff übersichtlich nach drei großen Fragen: Einmal stellt er die tatsächliche Wirtschaftsgeschichte mit vielen Daten und Fakten dar, von der trostlosen Nachkriegszeit über das "Wirtschaftswunder" bis hin zum Ausbau des Wohlfahrtsstaates in den siebziger Jahren, den halbherzigen angebotspolitischen Reformen in den achtziger Jahren und den wirtschaftspolitischen Fehlentscheidungen im Zuge der Wiedervereinigung. Dann erklärt er die zugrunde liegenden ordnungspolitischen Konzepte wie Ordoliberalismus, Keynesianismus und Angebotspolitik, die in der Bundesrepublik nacheinander die Wirtschaftspolitik bestimmten. Schließlich ergibt sich daraus eine Erklärung des anfangs rasanten Wachstums, dann der Krisen und zuletzt Stagnation der deutschen Volkswirtschaft.

Nach Ansicht von Prollius waren die wirtschaftlich so starken fünfziger und sechziger Jahre eine "liberale Ausnahmephase" in Deutschland. Schon bald wurde die marktwirtschaftliche Ordnung von organisierten Kräften zurückgedrängt und nach ihren Wünschen ein Verteilungssystem aufgebaut. Adenauers Rentenreform von 1957 deutete diesen Weg an, der dann unter Brandt in einen umfassenden Wohlfahrtsstaat mündete. Als pragmatischer Manager suchte Schmidt die Krisen zu überwinden, blieb jedoch dem keynesianischen Denken verhaftet. Kohl scheute eine radikale Wende zur Angebotspolitik. Sein "System" bedeutete eher Stillstand, bis die verschleppten Strukturprobleme in den neunziger Jahren voll sichtbar wurden. Die Massenarbeitslosigkeit, so der Autor, ist nun Ausdruck der lähmenden Regulierung und des Umverteilungsstaats, der völlig aus der Form geraten ist, keine Anreize zur Leistung setzt und auch im sozialen Bereich Ursache einer beklagenswerten zunehmenden "Verwahrlosung" ist.

Michael von Prollius: Deutsche Wirtschaftsgeschichte nach 1945. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2006, 342 Seiten, broschiert, 16,90 Euro


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