© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/06 17. November 2006

Das Band, das die Garbe hielt
Mit dem Tod Kaiser Franz Josephs endete nicht nur die Epoche, sondern auch Reich und Dynastie "novemberten" bereits
Eberhard Straub

Glaubst: in Voraussicht lauter Herrschergrößen / Ward Erb-recht eingeführt in Reich und Staat? / Vielmehr nur: weil ein Mittelpunkt vonnöten, / Um den sich alles schart, was gut und recht / Und widerstrebt dem Falschen und dem Schlimmen". So ließ Franz Grillparzer 1848 Kaiser Rudolph II. im "Bruderzwist im Hause Habsburg" reden. In diesem Jahr der Revolution trat - 18 Jahre alt - Kaiser Franz Joseph die Regierung an, der am 21. November 1916 starb. Zu Beginn seiner Herrschaft war die weitere Existenz des Kaiserreiches Österreich gefährdet, als er starb, abermals. Dazwischen lag die nach ihm benannte franzisco-josephinische Epoche, eine Zeit der Sicherheit, des ruhigen Fortschritts und dauernder Hoffnung, das Leben als Zusammenleben zu kultivieren und zu verschönern. Die Regierungszeit Kaiser Franz-Josephs gehört zu den glänzendsten Epochen in der Geschichte Europas.

Dabei war er ein Pechvogel, wie er sich selbst charakterisierte. Er gab als deutscher Fürst die Politik Metternichs auf, immer auf gute Beziehungen zu Preußen zu achten. Im Kampf um Deutschland verlor er erst die italienischen Provinzen und anschließend die Vorherrschaft in Deutschland, aber einbezogen in ein Bündnissystem, das von nun an von Berlin aus organisiert wurde. Außerdem hatte er in den österreichisch-ungarischen Dualismus einwilligen müssen, der den Deutschen die Vorherrschaft in der gesamten Monarchie entzog. Seine politischen Mißgriffe, der Rückgang an Ansehen und die Schwächung einer Großmacht, die Österreich-Ungarn doch war und bleiben wollte, konnte er überraschenderweise mühelos überstehen. Ja, seine Niederlagen machten ihn erst richtig populär. Die Krone, der Kaiser und König, waren das Unterpfand der komplizierten Einheit, die auf Einigkeit angewiesen war.

Einander ergänzen und das Laufwerk in Gang halten

Franz Joseph garantierte und repräsentierte den Zusammenhalt des Reiches. Sein Wahlspruch lautete: Viribus unitis, mit vereinten Kräften zum Nutzen der Monarchie, wie das Reich umgangssprachlich genannt wurde, zusammenzuarbeiten. So konnte er unmittelbar die Sätze, die Grillparzer Rudolph II. in den Mund legte, auf sich selbst beziehen: "Ich bin das Band, das diese Garbe hält, / unfruchtbar selbst, doch nötig, weil es bindet". Das monarchische Prinzip behielt seine Überzeugungskraft und erfüllte seine staatserhaltende Funktion, je offenkundiger sich in den Parlamenten die nationalen Gegensätze bemerkbar machten. Die Einheit veranschaulichte die Krone, der Kaiser und König, der mit Notverordnungen am Parlament vorbei regieren konnte, wann immer es ihm geboten erschien. Insofern war er unentbehrlich auch für die Kräfte, die auf eine weitere Föderalisierung der Monarchie hofften.

Franz Joseph hatte früh gelernt, Leben und Regieren streng auseinander zu halten. Die Feier des Individuums, der unverwechselbaren Besonderheiten im Zuge der zeitgemäßen Selbstverwirklichung, kannte er nicht. Er war unpersönlich wie ein Schatten. Er verstand die Bedeutung des Zeremoniells, dessen Zwängen er sich mit leichter Eleganz einfügte, als sichtbare Zeichen gesetzlicher Ordnung, jenseits von Eitelkeit und Willkür. Für seine Person - er war sehr einfach - benötigte er keine Zeremonien. Aber die Staatsperson, die er verkörpern sollte, konnte ihrer nicht entbehren: weniger ein Mensch als ein Bild zu sein. Die ungemeine Höflichkeit des Kaisers verlieh dem Vollzug der Regeln eine Liebenswürdigkeit, die sie wie eine dennoch freie Arabeske unerschütterlicher Vornehmheit wirken ließ. Er begriff sich als letzter Monarch der alten Schule.

Franz Joseph war dennoch ein sehr moderner Regent, der sich um die Funktionstüchtigkeit des staatlichen Uhrwerks kümmerte. Der Kaiser ist der Zeiger, der die richtige Stunde weist und damit auf das hinweist, was die Stunde erfordert. Insofern ist er als Staatsorgan ein technisches Element unter anderen, aber das wichtigste, weil er angibt, was die Stunde geschlagen hat. Das kann er jedoch nur, sofern alle Einzelteile - alle Behörden - in wohldurchdachter Koordination einander ergänzen und das Laufwerk in Gang halten. Bei Störungen greift der Kaiser ein, entfernt verbrauchte Minister oder Beamte - und überläßt nach solchen praktischen Reparaturen den Mechanismus wieder seinen selbständigen Regelmäßigkeiten. Menschliche Nähe, die der Schüchterne oft entbehrte, vermied er in sachlichen Beziehungen. Paradoxerweise gewann er darüber - wegen seiner unerschütterlichen Neutralität und Sachlichkeit - die Herzen seiner Staatsdiener.

Nicht zuletzt, um ihm bei seiner wichtigsten Aufgabe zu helfen, die er mit knappen Worten bestimmte: "Ich muß meine Völker vor ihrer Regierung schützen." Darin erkannte er die Pflicht eines konstitutionellen Monarchen. Denn ein Einzelner hat immer Rücksicht zu nehmen auf die Vielfalt der Meinungen und Absichten, eine Mehrheit hingegen braucht keine Rücksicht zu nehmen. Ein Ausgleich der unterschiedlichsten Interessen mußte immer schwerer werden, je heftiger das revolutionäre Prinzip der nationalen Selbstbestimmung die durcheinander siedelnden Völker Mitteleuropas gegeneinander aufbrachte.

Metternich, der den nationalen Gedanken als unbrauchbar und zerstörerisch für die Ruhe Europas verwarf, wußte aber, daß dieser zusammen mit der Demokratie, seinem Zwilling, die vertraute Welt umstürzen und alles unter sich begraben würde. Das alte Europa sah er nach 1815 am Anfang seines Endes. Das neue würde sich gegen Ende des zwanzigsten Jahrhundert herausbilden, zwischen Ende und Anfang gebe es jedoch ein Chaos. Entschlossen, mit dem alten Europa, dessen Abbild im Kleinen Österreich-Ungarn war, unterzugehen, blieb ihm keine andere Möglichkeit, als das morsche Gebäude zu stützen, solange es ging. Seitdem blieben Fortwurschteln und Temporisieren das Geheimnis der kaiserlichen Politik, um die nationalen Unzufriedenheiten zumindest vom Augenblick zum nächsten abzudämpfen. Außerdem hielten die großen Mächte fast bis zum Ausbruch des Weltkrieges Österreich-Ungarn für eine europäische Notwendigkeit, da keiner wußte, wie das Vakuum zu füllen wäre, das bei dessen Auflösung entstünde. Kaiser Franz Joseph, der sich und sein Reich zuweilen einen Anachronismus nannte, gab sich keinen Illusionen hin. Wenn schon untergehen, dann wenigstens ehrenhaft.

Immerhin gewährte dieser hinhaltende Widerstand den Europäern und den Völkern des Kaisers noch einmal herbstliche, köstliche Stunden, dergleichen nie mehr wieder kamen. Der Nationalismus hat Europa, wie die Gegner der Revolution erwarteten, ins Chaos gestürzt. Davon hat es sich bis heute nicht erholt. "Europa" und die Ableitungen "Europäer" oder "europäisch" sind gänzlich ungesicherte Begriffe. Den Völkern in Europa ist eine begeisternde Vorstellung ihrer Bestimmung, harmonisch zusammenzuleben, abhanden gekommen. Europa ist ein großer Wirtschafts- und Handelsraum, dessen mißvergnügte Einwohner mit sich selbst beschäftigt sind. Ununterbrochen mit wüsten Vergangenheiten hadernd, die sie um die wichtigste Voraussetzung bringen, es jeweils erst einmal mit sich selbst auszuhalten, um sich mit den anderen anfreunden zu können und mit vereinten Kräften - Viribus unitis - sich an eine schöpferische Erneuerung Europas zu wagen.

Völker unter den Fittichen des wohltätigen Doppeladler

Die unablässige Erinnerung und das beunruhigte Gedächtnis an Schrecklichkeiten und Trostlosigkeiten haben sämtliche europäische Völker ihrer Geschichte entfremdet. Sie sind zu geschichtslosen Völkern geworden. Sie sind, um Worte des Andreas Gryphius von 1645 aufzugreifen, ganz, ja mehr denn ganz verheeret und vernichtet, weil ihnen auch der Seelen Schatz abgezwungen wurde oder verlorenging, die Übereinstimmung mit dem tiefen Reich der Toten. Denn es ist der Tod, der Leben mit Leben verbindet und Metamorphosen, Verwandlungen schafft im dauernden Stirb-und-Werde der Geschichte. Die Völker Europas galten deshalb 1979 Carolus Cergoly, dem Österreicher und Europäer aus Triest, als Tote, dem Leben abgestorben, weil ohne Verbindung zu einer gemeinsamen Geschichte, zu einem früheren Zusammenleben. Er pries damals in seiner Elegie auf kaiserliche Zeiten, "Il Complesso dell'Imperatore", den Kaiser und die Eintracht - trotz aller Eintrübungen - der Völker unter den Fittichen des wohltätigen Doppeladler.

Jetzt geht es den Hinterbliebenen der vielen Katastrophen ähnlich wie Hugo von Hofmannsthal 1924: "Und so haben wir ein Vaterland und eine Aufgabe gehabt, und müssen weiterleben!" Morti in libertà provvisoria: tot in vorläufiger Freiheit, schätzte Cergoly die Siedler ein auf den Trümmern untergegangener Welten. Sollten die Toten wider Erwarten erwachen, dann freilich würden sie die inständige Bitte des in die ewige Seligkeit entrückten Kaisers, dem auf Erde nichts erspart blieb, nicht weiter überhören: Ricordate o miei popoli sinceramente i tempi passati. Besinnt Euch, meine Völker, freimütig auf die entschwundene Zeit. Denn was das Gestern leistete, müssen wir kennen, um zu erkennen, was das Heute fordern kann oder darf.

Foto: Der hochbetagte Franz Joseph 1914 im Gebet: "Ich muß meine Völker vor ihrer Regierung schützen"


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