© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/06 24. November 2006

Gleichgültiger Nihilismus
von Josef Kraus

Mit Emsdetten sind wir um viereinhalb Jahre vor das Erfurt-Massaker zurückgeworfen worden. Seitdem hat sich gesellschaftspolitisch nämlich fast nichts getan. Erreicht wurden allenfalls Evakuierungspläne an Schulen sowie eine lasche Kennzeichnungspflicht für mediale Gewaltprodukte. Ansonsten: Fehlanzeige. Mediale Gewalt ist nach wie vor nicht geächtet, und im zwischenmenschlichen Bereich greift die Unkultur des Weghörens und Wegschauens weiter um sich. Jetzt werden erneut Patentrezepte zur Schau gestellt, etwa die Videoüberwachung von Schulen oder deren Ausstattung mit Metalldetektoren.

Das aber kann es nicht sein, denn Bildung und Erziehung können nicht gedeihen in der Atmosphäre eines Hochsicherheitstraktes. Viel wichtiger - und zugleich schwieriger - ist es, die wechselseitige soziale Wahrnehmung der Menschen zu fördern. Die Mehrzahl an Gewaltverbrechen an Kindern und an Gewalttaten Heranwachsender kündigt sich an, sie könnten verhindert werden, wenn das Umfeld mehr Interesse am Mitmenschen zeigte. Überfällig ist außerdem, und zuerst in der Erwachsenenwelt, eine Besinnung auf die tragenden Werte des Lebens in einem freien und demokratischen Rechtsstaat. Hier leben zu viele Ältere einen faktischen Nihilismus der Gleichgültigkeit und einen seichten Konsumismus vor. Der Abschieds- und Ankündigungsbrief des Emsdettener Gewalttäters weist durchaus in diese Richtung.


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