© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/06 24. November 2006

CD: Anna Netrebko
Heimatpflege
Andreas Strittmatter

Früher war alles besser. Sehnsucht, Kummer und Tränen waren kein Thema und die Vögel zwitscherten im fernen Tannenwald. Und jetzt? Ob dem Menschen Augen nur zum Weinen gegeben seien, fragt Jolantha in Tschaikowskys gleichnamiger Oper, ehe sich die blinde Königstochter in einem Arioso aus der unbekümmerten Vergangenheit mit Wald und Wiesen in die garstige Gegenwart seufzt.

Wohlan denn: Wozu hat der Mensch Augen? Zum Sehen natürlich. Und davon profitiert auch Anna Netrebko, die einen Teufel tun wird zu behaupten, daß früher alles besser gewesen sei - früher, als sie noch das Mariinsky-Theater in St. Petersburg schrubbte, um damit ihre Gesangsausbildung zu finanzieren und um Proben beiwohnen zu können. Doch im Tonstudio lieferte die heutige Edelprotagonistin des Musiktheater-Jetset trotzdem eine wunderbare Interpretation von Jolanthas Klagelied. Es ist das erste Stück auf Netrebkos neuer Platte, die als "Russian Album" in Sachen Oper ein wenig Heimatpflege betreibt. Das ist allemal erfreulich, bedenkt man, welche Schätze auf diesem Gebiet zu heben sind.

Man täte der Sopranistin freilich unrecht, sie allein nach der vom Magazin Stern verbreiteten Behauptung zu beurteilen, daß, "seit sie auf der Bühne" stehe, "Oper wieder sexy" sei - so verständlich das auch deucht angesichts manch zentnerschwerer Kolleginnen, die abseits des Walküren-Fachs meist fehlbesetzt aussehen. Die Uraufführung von Verdis "Traviata" scheiterte zum Beispiel nicht zuletzt auch an einer Matrone, der kein Schwein die Schwindsucht glauben mochte.

Doch zurück zu Netrebko, die zwischenzeitlich bewiesen hat, daß man trotz (oder auch mit) marketingverordneter Flittchenphänomenologie in der Tat sehr gut singen kann. "Russian Album" schlägt einen Bogen von Glinka über Rimsky-Korsakow, Tschaikowsky und Rachmaninow bis hin zu Prokofjew. Neben Arien und Szenenausschnitten sind auch Liedkompositionen enthalten, allerdings allesamt orchestral nachbearbeitet. Eine Vorliebe für Orchestrales hatten wohl auch die Tontechniker. Zwar läßt sich unter diesen Umständen fein abhören, wie detailverliebt und farbenreich Valery Gergiev sein Mariinsky-Orchester durch die Partituren schlägt, doch die Hauptsache gerät ins Hintertreffen: Der Ausgleich zwischen vokalem und orchestralem Volumen wurde am Mischpult nicht immer zu Netrebkos Vorteil entschieden. Zeitweilig will daher die Hand in verirrter Versuchung, einfach nur die Stimme lauter drehen zu können, zur Fernbedienung greifen.

Wohlgemerkt: Das hat nichts mit potentiellem Unvermögen der Sängerin zu tun, sondern geht auf das Konto der Herren von der Technik. Besonders unglücklich fällt diese Tendenz bei der Brief-szene aus Tschaikowskys "Eugen Onegin" ins Gewicht, eine Rolle, die Netrebko auf der Bühne bislang nicht gesungen hat, in der sie auf der Klangbühne mit ihrem dunklen Timbre aber ohnehin nicht wirklich überzeugt. Dazu nimmt man ihr den aufgekratzten Backfisch, der einem Lebemann per Post Herz und Liebesfreuden ausschüttet, stimmlich schlicht nicht ab, so sehr Netrebko um eine differenzierte Gestaltung der großen Soloszene auch Sorge trägt.

Ganz in ihrem Element ist die Fünfunddreißigjährige hingegen in den süß-exstatischen Momenten einer Arie der Francesca da Rimini aus Rachmaninows gleichnamiger Kurzoper. Hier imaginiert ihre Stimme eine wunderbare Lösung von aller Erdenschwere und bleibt dennoch mit rubinroter Grundierung dem Schicksal und der Welt verhaftet - einer der besonders gelungenen Momente dieses Albums, das trotz einiger Abstriche manch dankens- und hörenswerte Anregung vermittelt, sich mit russischem Opernschaffen näher zu beschäftigen.


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