© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/06 01. Dezember 2006

Amerika wieder in Erinnerung rufen
Jimmy Carters düstere Abrechnung mit der von seinen Nachfolgern leichtfertig verspielten Ausstrahlung der USA in der Welt
Fabian Schmidt-Ahmad

Es gehört zum Geschäft des Alltags, daß sich ein politischer Führer eine öffentliche Maske aufsetzt, durch die er zur Öffentlichkeit spricht und von dieser wahrgenommen und eingeordnet wird. Was sich hinter diesem taktierenden und abwägenden Produkt als Mensch verbirgt, wird manchmal erst ersichtlich, wenn sich ein Politiker in den Ruhestand begibt. Ist er mit der Inszenierung seines eigenen Denkmals beschäftigt? Rechnet er rachsüchtig mit einstigen Gegnern ab? Benutzt er die Gnade der Hilflosigkeit und fordert im Namen der Allgemeinheit Dinge ein, die zu geben er selbst nie bereit war? Alles dies sind Dinge, durch die er sich als Mensch zu erkennen gibt.

Daher wäre es falsch, das Buch "Unsere gefährdeten Werte" von Jimmy Carter nur als den üblichen Schlachtgesang der Demokraten zu sehen. Dieses Buch dürfte in den Vereinigten Staaten nicht deswegen lange Zeit die Bestseller-Listen angeführt haben, weil hier die Regierung Bush auseinandergenommen wird - andere haben dies schärfer und ausführlicher getan -, sondern weil hier ein Mensch und Amerikaner spricht, den eine tiefe Sorge um die Zukunft seines Landes umtreibt. Denn leicht übersieht man als Nicht-Amerikaner das erste Opfer der Globalisierung - Amerika selbst. Nicht der ökonomische Hegemon, sondern das alte, geistige Amerika, welches sich einst für die Verwirklichung eines Menschheits-traums hielt und sich nun in einem stampfenden, globalen Maschinenraum wiederfindet.

Zwar sind es spannende Momente, wenn beispielsweise die gedankenlose Aufweichung des Atomwaffensperrvertrags durch die amtierende Regierung angeprangert wird - für Carter stellte dieser noch selbstverständlicher Teil seiner Politik dar -, doch machen sie nicht den eigentlichen Wert des Buches aus. Der liegt vielmehr in der inneren Haltung, aus der die verschiedenen Fragen zur Abtreibung, Todesstrafe, dem Verhältnis von Religion und Naturwissenschaft usw. betrachtet werden. Das Selbstverständnis einer Nation ist hier ersichtlich, die einst über die bloß ökonomischen Bedürfnisse hinaus noch ein anderes Amerika darstellte und eine moralische Strahlkraft in der Welt besaß.

Es ist dieses Amerika, dessen moralische Werte Carter wieder in Erinnerung rufen möchte und auf deren Grundlage er sich mit der Gegenwart auseinandersetzt. Es ist das tief empfundene Christentum eines Baptisten, der sich gegen die religiöse Bevormundung durch einen Fundamentalismus wendet, welcher sich anmaßt, Menschen in Anhänger und einen wertlosen Rest aufzuteilen, eines Bürgers, der sich gegen die Vermischung von Religion und Staat wendet, was aus seiner Sicht nur zum Schaden beider führen kann. Es offenbart sich der Glauben des Staatsmannes, der den Niedergang des internationalen politischen Systems und eine wirre Verzettelung der amerikanischen Außenpolitik erleben muß. Dieses Amerika möchte Carter wieder in Erinnerung rufen.

Doch unwillkürlich ergreift den Leser Schwermut. Die geistige Haltung, die Carter vertritt, wurde schon längst aus den aussichtsreichsten Positionen der politischen Parteien herausgespült. Er selbst war vor dreißig Jahren bereits ein Zufallsfund des amerikanischen Volkes, als die Demokraten ihren weithin unbekannten Kandidaten als Notlösung aufstellten. Vier Jahre später war der Spuk des friedliebenden Amerikaners auch schon vorbei.

Wer kann heute noch die moralische Erneuerung Amerikas vorantreiben? Demokraten, die aus taktischen Gründen lieber keine oder eine Vielzahl von Meinungen vertreten möchten anstelle einer einzigen, echten Überzeugung? Oder Republikaner, deren zur Hysterie neigende Ideologie nicht den ersten Straßenkampf in Bagdad überlebt hat?

Es bleibt ein bitterer Geschmack bei der Lektüre des Buchs. Nicht, weil es den Leser unbeeindruckt läßt oder gelangweilt von den Äußerungen eines politischen Rentners. Sondern im Gegenteil, gerade weil es innerlich berührt. Denn bei allem, was hier aus bester amerikanischer Tradition geäußert wird, schleicht sich ein Verdacht ein: Es ist ein sterbendes Amerika, dem Carter seine Stimme leiht.

Gewiß, die ökonomische Supermacht wird vielleicht noch auf Jahrzehnte ihre Dominanz erhalten. Aber möglicherweise wird einst der Aufruf Carters gelesen werden wie die Stimme der letzten Republikaner im antiken Rom. Das moralische Amerika, das Amerika als Hoffnung der Menschheit, scheint dem Untergang geweiht.

Jimmy Carter: Unsere gefährdeten Werte. Amerikas moralische Krise. Pendo Verlag, München/ Zürich 2006, gebunden, 195 Seiten, 17,90 Euro


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