© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/06 08. Dezember 2006

BRIEF AUS BRÜSSEL
Merkels Glaubwürdigkeitstest
Andreas Mölzer

Europa gelingt gemeinsam", lautet der Titel des Arbeitsprogramms für die deutsche EU-Ratspräsidentschaft, das Berlin nun vorgestellt hat. Wie gleich der erste Schwerpunkt des Programms, die Wiederbelebung der europäischen Verfassungsleiche, zeigt, bedeutet "gemeinsam" allerdings noch lange nicht die Einbeziehung der Bürger. Denn zum einen sind Merkel & Co. überzeugt, daß im Falle des Inkrafttretens der EU-Verfassung über Europa geradezu paradiesische Zustände wie mehr Demokratie, Transparenz und Effektivität hereinbrechen würden. Zum anderen wird verschwiegen, daß die Franzosen und Niederländer die von Brüssel verordneten Segnungen nicht zu würdigen wußten, sondern der EU-Verfassung eine deutliche Abfuhr erteilten.

Weil aber in der real existierenden EU der Wille der Bürger bekanntermaßen nicht allzuviel zählt, soll der deutsche EU-Vorsitz mit den übrigen Mitgliedstaaten und den Organen der EU "ausführliche Konsultationen" führen, um dann in einem Bericht festzuhalten, wie die Entscheidung der Franzosen und Niederländer am besten im Sinne der Brüsseler Zentrale korrigiert werden könne. Daß dieser Weg nur den ohnedies schon außerordentlich großen EU-Verdruß der Bürger noch weiter verstärkt, kommt einer abgehobenen politischen Pseudo-Elite freilich nicht in den Sinn. Denn wollte die Bundesregierung ihre eigene Ankündigung ernst nehmen, wonach "Europa immer nur das sein kann, was die europäischen Völker und Staaten aus ihm machen wollen", dann müßte Berlin den Startschuß für die Ausarbeitung eines Grundlagenvertrages für einen europäischen Staatenbund geben.

Ebensowenig im Sinne der Bürger ist das Vorhaben der künftigen deutschen Ratspräsidentschaft, die EU noch stärker als bisher zu einem Gehilfen der Globalisierung sowie eines schrankenlosen Liberalismus zu machen. Verklausuliert als "Stärkung des Binnenmarktes" soll beispielsweise der Markt für Postdienstleistungen freigegeben werden. Bei diesem Primat des Marktes verwundert es nicht weiter, wenn auf die Belange der Arbeitnehmer bestenfalls in schwammigen Formulierungen wie "Europa ist mehr als wirtschaftliche Effizienz und Marktwirtschaft" eingegangen wird.

Mit Spannung wird zu beobachten sein, welchen Kurs Merkel in der Frage des Beitritts der Türkei zur EU einnehmen wird. Wird sie, um nicht bei der Brüsseler Zentrale in Ungnade zu fallen oder die Erweiterungsfanatiker in der eigenen Regierung allzusehr zu verärgern, die Vorgaben der Türkei-Lobby erfüllen, oder wird sie ihren Worten von einer privilegierten Partnerschaft mit Ankara auch Taten folgen lassen? Die Formulierung im Arbeitsprogramm, wonach Deutschland die laufenden Beitrittsverhandlungen mit der Türkei "nach Maßgabe der Fortschritte der Kandidaten bei der Erfüllung ihrer Verpflichtungen fördern" wolle, ist jedenfalls Merkels Glaubwürdigkeitstest. Denn bekanntlich weigert sich Ankara stur, die Vorgaben der EU auch nur ansatzweise zu erfüllen, wie insbesondere die Weigerung zeigt, das EU-Mitglied Zypern endlich anzuerkennen. Daher müßten gleich nach der Übernahme des EU-Vorsitzes die Beitrittsgespräche abgebrochen werden und nicht, wie es die EU-Kommission vorschlägt, einzelne Kapitel auf Eis gelegt werden und bei den übrigen mit den Verhandlungen begonnen werden.

 

Andreas Mölzer ist Chefredakteur der Wiener Wochenzeitung "Zur Zeit" und seit 2004 FPÖ-Europaabgeordneter.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen