© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/06 08. Dezember 2006

Gedenken unter dem Kreuz Christi
Görlitzer Nikolaikirche: Die Farben des Schützengrabens aus expressionistischer Sicht
Paul Leonhard

Endlose Namenslisten, Lebensdaten, Dienstränge. Infanterie, Kavallerie, Landsturmmänner, U-Bootfahrer, Angehörige der Schutztruppe: Genau 2.300 Namen stehen an der Westempore der Görlitzer Nikolaikirche. Grauschwarze Schrift auf hellgrauem Grund. Zwei an Ernst Barlach erinnernde Freiplastiken, einen Krieger und eine Frau darstellend, trauern. Die evangelischen Christen haben ihren Gefallenen ein einzigartiges Denkmal geschaffen. "Die Masse der Toten ist in den Namen aufgelöst", sagt Margrit Kempgen, Oberkonsistorialrätin und Vorsitzende der Evangelischen Kulturstiftung Görlitz, beeindruckt. Lebensgeschichten von Bürgern der Stadt - und die Abbrüche des Lebens: Wert wird auf jeden Einzelnen gelegt. Die individuellen Schriftzüge der Namen unterstreichen das noch.

Mitte der 1920er Jahre hat eine Gruppe Görlitzer Protestanten den süddeutschen Kirchenbauarchitekten Martin Elsässer beauftragt, aus dem zu diesem Zeitpunkt als Begräbniskirche genutzten Gotteshaus eine Gedächtnisstätte für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs zu schaffen. Elsässer, Sohn eines Pfarrers, war damals Professor für mittelalterliche Architektur und leitender Direktor der Kunstgewerbeschule Stuttgart. Er ließ seine Studenten Entwürfe zeichnen und brachte auch einen Schriftgestalter und Grafiker für Farbgestaltung mit. Die Künstler spielen mit den Farben des Schützengrabens. Die Farbe wirkt mitunter wie herabsinkende Asche. Sie wird von unten nach oben heller. Unten oft noch tiefschwarz, wird sie dann rot und verschwindet im Grau.

Die Künstler gestalteten die Kirche gründlich um

Die Görlitzer Protestanten gaben den Expressionisten aus Stuttgart weitgehend freie Hand. Sie durften die aus dem 15. Jahrhundert stammende, im Laufe der Geschichte mehrmals zerstörte und wiederaufgebaute Nikolaikirche im Inneren nach Gutdünken umgestalten. Elsässer hat das gründlich getan. Er ließ sowohl die barocke, illusionistisch bemalte Holzflachdecke als auch die Gewölbe abreißen. Die zwölf spätgotischen Achteckpfeiler ersetzte er durch acht trichterförmige Stahlbetonsäulen. Die drei Kirchenschiffe bewertete Elsässer alle gleich. Ein großer, offener, lichtdurchfluteter Raum entstand. Von einer "ganz phantastischen Raumwirkung" sprechen die heutigen Denkmalpfleger, die allerdings auch bedauern, daß von der einstigen barocken Inneneinrichtung kaum etwas erhalten geblieben ist. Kanzel, Orgel und alle anderen beweglichen Teile wurden von Martin Elsässer mit Ausnahme des hölzernen Altars und der Epitaphien entfernt.

Entstanden ist eine hochwertige, expressionistische Ausstattung, wie sie in diesem Zustand nur selten in Deutschland zu finden ist und deren Bedeutung auch in Görlitz nur langsam wieder in das Bewußtsein der Öffentlichkeit rückt. Auch wenn sich die Wandausmalung nur an der Westempore komplett erhalten hat, lassen die Rudimente noch deutlich den einstigen Gesamteindruck erahnen. Elsässer gelang es, die Atmosphäre des Krieges einzufangen.

Die Akustik in dem umgebauten Gotteshaus ist greulich. Sie überschlägt sich (was der Architekt später durch das aufhängen riesiger Stoffbahnen im Kirchenschiff zu dämpfen versuchte). Von "der Stimmung des Schützengrabens", spricht Margrit Kempgen. Die schwarzweißroten Farben des Kaiserreiches, vor allem aber das Feldgrau des Heeres bestimmen den Raum. Auch am Gestühl, am Altar und an den Türen sind sie wiederzufinden. An den Wänden wird das Neue Testament zitiert: "Der Tod ist verklungen im Sieg. - Die Rache ist mein. - Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben."

Als Elsässer den Protestanten im November 1926 die Gedächtnisstätte übergab, war die Stimmung zwiespältig. "Die älteste Kirche von Görlitz sei aus einem Aschenbrödeldasein erlöst und ist, wenn nicht die schönste, so bestimmt die eigenartigste Kirche unserer Stadt geworden", schrieb die Lokalzeitung im Spätherbst 1926. Die Hinterbliebenenverbände fragten dagegen an, ob eine finanzielle Unterstützung der Kriegsversehrten, Witwen und Waisen nicht sinnvoller wäre.

Waren die Bibelverse zu kriegerisch für die DDR?

Spätestens seit Friedrich Eberts Gedenkrede 1924 vor dem Reichstag in Berlin war diese Diskussion im vollen Gang. Statt der vom sozialdemokratischen Reichspräsidenten angeregten Schweigeminute stimmte ein Teil der Versammelten "Nie wieder Krieg"-Rufe an, während auf der anderen Seite die "Wacht am Rhein" erklang. Ein heftiger Streit nach dem Sinn der Erinnerns zwischen radikalen Pazifisten und den Deutschnationalen entbrannte.

In der Nikolaikirche sind die evangelischen Görlitzer einen eigenen Weg gegangen. Das Gedenken sollte keine Kriegs- und Heldenverehrung sein und nicht unter dem Eisernen Kreuz, sondern unter dem Kreuz Christi stattfinden. Zu DDR-Zeiten wurden die Kirchenwände auf die Westempore übertüncht. Unklar ist, ob der Grund dafür allein die bis 1967 schweren Bauschäden waren, die auf die von Elsässer zu schwach ausgeführte Innenkonstruktion zurückzuführen war, oder ob die Bibelsprüche von den zuständigen Kirchenleuten einfach zu kriegerisch empfunden worden.

Nach einer gründlichen Außen- und Innensanierung 1974 bis 1976 fiel die Nikolaikirche und ihre expressionistische Ausgestaltung allmählich der Vergessenheit anheim. Das Gebäude wurde fortan als Einlagerungsort für die Innenausstattung von Lausitzer Kirchen genutzt, die dem Braunkohletagebau zum Opfer fielen. Erst seit Anfang des 21. Jahrhunderts beginnen die Görlitzer zu begreifen, welche Kostbarkeit hier die Zeiten überdauert hat: eine Besonderheit in Deutschland und Europa.

"Es ist unsere Kirche für das Verlorene", sagt Margrit Kempgen. Die Gedächtnisstätte habe Stacheln, die den Besucher nicht so schnell wieder loslassen: auch weil die übertünchten Namen allmählich wieder auftauchen und sich die individuellen Lebensdaten so Stück für Stück wieder rekonstruieren lassen.

Foto: Nikolaikirche in Görlitz: "Wenn nicht die schönste, so bestimmt die eigenartigste Kirche unserer Stadt"

Weitere Informationen im Internet unter http://kulturstiftung.kkvsol.net/nikolaikirche


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