© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/06 08. Dezember 2006

Verlöschende Nordlichter
Der zwölfte des auf zwanzig Bände angelegten Biographischen Lexikons Schleswig-Holsteins liegt vor / Regionale Identität wird heute wohl kaum mehr gestiftet
Bernd Siegmund

Als im "positivistischen" 19. Jahrhundert die Produktion von Lexika ihre schönsten Blüten trieb, mußte natürlich auch eine Nationalbiographie her. Im Auftrag der Münchner Historischen Kommission übernahm der holsteinische Baron Rochus von Liliencron als Herausgeber kurz vor der Reichsgründung ein solches Mammutwerk, die "Allgemeine Deutsche Biographie" - unterstützt vom Verlag Duncker & Humblot, an Ort und Stelle in Schleswig, wo Liliencron sich eine Sinekure am adeligen Damenstift gesichert hatte. Nur angewiesen auf einen halbtags beschäftigten Kanzelisten, brachte er das Unternehmen bis 1907 zum Abschluß. Da lagen 45 Bände vor, zustande gekommen in einer Zeit, in der die Stahlfeder als technisch innovativ galt. Unter diesen Bedingungen sind 45 Bände in vierzig Jahren höchst respektabel. Liliencrons Nachfolger, mit ihrer 1953 gestarteten "Neuen Deutschen Biographie", wieder in der Obhut der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, wieder betreut von Duncker & Humblot und seit zehn Jahren begünstigt durch die Segnungen der Internetära, schafften bislang gerade einmal die halbe Bandstrecke, und ein Abschluß steht erst für 2015 in Aussicht.

Aber selbst diese Erscheinungsweise ist noch rasant zu nennen, wenn man die nationale Ebene mit der regionalen vergleicht. Die Altpreußische Biographie, die verdiente Söhne und Töchter Ost- und Westpreußens versammelt, ist seit 1941 "unterwegs" - und inzwischen erst beim fünften Band angelangt. Sächsische, schlesische, schwäbische, fränkische "Lebensbilder" werden seit Menschenaltern geschrieben, aber ein Ende scheint nicht recht absehbar. Insoweit fällt also die schleswig-holsteinische Biographie, deren Konzeption etwa 1965 in Angriff genommen wurde, keineswegs aus dem üblichen Rahmen, wenn jetzt "schon" ihr zwölfter Band erschienen ist, der mit 113 Artikeln die Gesamtzahl auf 1.688 für erinnerungswürdig befundene Nordelbier erhöht. Freilich dürften nur sehr wenige derer, die sich vielleicht als Studenten 1970 den ersten der schönen roten Bände ins Regal stellten, den für 2030 avisierten zwanzigsten Band mit ihren Greisenhänden liebkosen.

Dieses Schneckentempo mag für Freunde der Entschleunigung seinen Reiz haben. Gedächtnistheoretiker bringt es ins Grübeln. Denn Biographienspeicher für mehr oder weniger bedeutende Deutsche oder Schleswig-Holsteiner könnten nach dem alle multikulturellen Naherwartungen erfüllenden demographischen Dammbruch kaum noch jene identitätsstiftenden Effekte entfalten, die man seit dem 19. Jahrhundert von solchen lexikalischen Großprojekten erwartete - und die selbst noch motivierend wirkten, als man nach 1989 in Mitteldeutschland daran ging, eilig biographische Regionallexika wiederzubeleben oder, wie in Mecklenburg, neu zu begründen, um das in der DDR ausgemerzte föderale Bewußtsein zu wecken. Aber auch wenn man die Erscheinungsfolge dadurch verkürzte, daß man auf die gedruckte Form verzichten und künftig die Biographien nur noch "ins Netz" stellen würde, wäre ein nennenswerter Identitätsgewinn nun nicht mehr zu erzielen. Denn Besinnung auf Territoralität und "Heimat" verschafft unter Globalisierungsdruck mittlerweile kaum mehr Verhaltenssicherheit.

Da ihnen sukzessive die kollektiven Referenzsubjekte "Volk" und "Stamm" abhanden kommen, wird offenbar, daß National- oder Regionalbiographien immer schon nur Lebensläufe zwischen zwei Buchdeckeln vereinten, die der Geburtszufall oder der Karriereweg an einen umgrenzten Landstrich bindet. Das führt der zwölfte Band des Biographischen Lexikons für Schleswig-Holstein und Lübeck geradezu exemplarisch vor Augen. Denn kein "Wesen" des "Stammes" verbindet die, denen hier die beiden umfangreichsten Artikel gelten, den barocken Namenspatron der Kieler Landesuniversität Herzog Christian Albrecht und den Bundeskanzler Willy Brandt als gebürtigen Lübecker Herbert Frahm. Mehr als Zeitgenossenschaft verbindet auch nicht den Ministerpräsidenten Kai-Uwe von Hassel mit dem im Lande untergetauchten NS-Psychiater Werner Heyde, dessen Enttarnung 1959 schon einen Vorgeschmack auf die Barschel-Engholm-Affäre gab.

Die schwindende Identifikationskraft scheint dabei in Relation zum Umfang der Beiträge zu stehen. Seit Band 10 wachsen sich manche Artikel zu Essays aus. Das Individuelle gewinnt Übergewicht. Im ersten Band erhielt Lorenz von Stein eine, der schleswig-holsteinische Prototyp Theodor Storm hatte sich mit drei Seiten zu begnügen. Daß jetzt der Willy Brandt gewidmete Beitrag ältere Kurzbiographien über seinen Mentor Julius Leber oder den ebenfalls seit langem porträtierten, entschieden bedeutenderen Landsmann Thomas Mann mit neun Seiten um Längen schlägt, ist symptomatisch. Denn wo sich früher gerade aus der Verknappung der individuellen eine gewiß schon problematische, aber halbwegs identitätstaugliche kollektive Biographie ergeben sollte, muß darauf heute keine Rücksicht mehr genommen werden. Folglich schwindet auch das Interesse an Rangverhältnissen. Mit dem unerquicklichen Resultat, daß ein Blindenlehrer wie Wilhelm Voss (1882-1952), ein standespolitisch engagierter Volksschullehrer wie Marcus Schlichting (1804-1875) oder ein eher nachrangiger Maler wie der Memelländer Horst Skodlerrak (1920-2001) in epischer Breite abgehandelt werden. Sie machen so dem Begründer des Kieler Weltwirtschaftsinstituts, dem Ostfriesen Bernhard Harms (1876-1939), oder der Howaldt-Familie unangemessene Konkurrenz, deren schiffebauende Häupter die zwanzig Seiten des mit der Werftgeschichte unlängst profilierten Bremer Historikers Christian Ostersehlte (JF 27/05) schon eher verdient haben.

Daß die umfängliche Entgrenzung zu wertenden Stellungnahmen einlädt, ist ebenfalls unvermeidlich. Eine Tendenz, die nicht allein bei den schleswig-holsteinischen Lexikonmachern zu beobachten ist - obwohl sich der zwölfte Band im Gegensatz zu seinen Vorgängern für die "einschlägige" Zeit des Dritten Reiches eher bezähmt. Der dem "20. Juli 1944" zum Opfer gefallene Nationalökonom Jens Jessen etwa wird zwar vom Hochsitz der Moral herab gönnerhaft dafür gelobt, "Opferbereitschaft" im Widerstand gezeigt zu haben, "bei aller Kritik an seiner frühen Verbundenheit mit dem Nationalsozialismus".

Adäquater fällt demgegenüber die Darstellung aus, die "alten Kämpfern" gilt, die in hohen Funktionen mit der NSDAP brachen, den Brüdern Otto und Wilhelm Hamkens, in deren Lebensweg sich vertiefen sollte, wer etwas über das "Rückgrat" von Volk und Nation der Deutschen im 20. Jahrhundert erfahren möchte. Der Eigen- und Unabhängigkeitssinn dieser beiden "lateinischen" Bauernsöhne aus Eiderstedt, der an die Sturköpfigkeit Jens Jessens erinnert, des Hofbesitzersohns aus Nordschleswig, läßt dann doch noch aufscheinen, was einst als "typisch" für die Bewohner "zwischen den Meeren" gelten und mittels biographischer Verdichtung Vorbildwirkung entfalten sollte.

Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek unter Mitwirkung des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde (Hrsg.):Biographisches Lexikon für Schleswig-Holstein und Lübeck, Band 12. Wachholtz Verlag, Neumünster 2006, gebunden, 447 Seiten, Abbildungen, 32 Euro

Fotos: Jens Jessen (1895-1944); Georg Howaldt (1841-1909)


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