© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/06 08. Dezember 2006

Tabubrüche: ARD und ZDF entdecken die Dramen deutscher Vergangenheit
Flucht und Vertreibung
Christoph Martinakt

Wenn es stimmt, daß sich das TV-Programm an den Einschaltquoten ausrichtet, also Volkes Wille an dem gezielten Griff zur Fernbedienung mißt, dann gibt es in den letzten Jahren eine neue Tendenz: eine Tendenz, die anzeigt, daß der Fernsehbürger gern mehr über die deutsche Geschichte erfahren möchte. Vornehmlich über jene der eigenen Familie und das, was dieser während des letzten Weltkriegs und des daran anknüpfenden Kalten Kriegs widerfahren ist. Eine Tendenz also, die der skeptischen Beobachtung eines befreundeten Geschichtslehrers zu widersprechen scheint, der auf die Frage, was denn die Kinder von heute im Geschichtsunterricht interessiert, apodiktisch antwortete: "Asterix und Obelix und Drittes Reich". Dessen dennoch treffende Bemerkung zielt auf einen zumeist zeitgeistigen Geschichtsunterricht ab, wie er sich nach 1968 Bahn brach.

Geschichte kommt von Geschehen, das Vergangene jedoch wird stets im Namen des vorherrschenden Zeitgeist systematisiert, gewichtet und interpretiert. Schenkt man dieser Logik Glauben, dürfte uns bald ein Paradigmenwechsel ins Haus stehen, zumindest jedoch eine Teilrevision des vorherrschenden Katachronismus, der Geschichte unentwegt mit Zeitgeist kontaminiert (Botho Strauß) und moralisch bewertet. Schließlich findet ein auf Sachlichkeit und Objektivität beruhender Zugang zur nationalen Geschichte in Beiträgen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens - man denke nur an "Die Mauer - Berlin '61" oder "Unter kaiserlicher Flagge" (JF 40 und 41/06) - bereits seit geraumer Zeit seinen Niederschlag.

Untypisch unaufgeregt und ehrlich

Was zunächst mit Guido Knopps gewiefter Geschichtsvermarktung im ZDF begann, tritt heute weit prononcierter und facettenreicher im Fernsehen zutage: die Thematisierung bislang ausgeblendeter Kapitel der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts.

Ein äußerst gelungenes Beispiel dafür läuft derzeit im ZDF: das dreiteilige Doku-Drama "Die Kinder der Flucht" (Regie: Hans-Christoph Blumenberg), in dem die Einzelschicksale verschiedener Kriegskinder zu einer Geschichte geknüpft werden. Den Hintergrund für die Spielfilmszenerie lieferten die Begebenheiten und Erinnerungen noch lebender Protagonisten, die als Wolfs-kinder durch Ostpreußen streiften, die Bombardierung, Sklavenarbeit und Vergewaltigung in Breslau erduldeten.

In der Auftaktfolge "Eine Liebe an der Oder" geht es dabei weniger melodramatisch zu als erwartet. Geschildert wird das Schicksal der jungen Elvira Profé aus Bärwalde. Sie, die Anfang 1946 nach Lagerhaft in Sibirien in ihre inzwischen von Polen bewohnte Heimatstadt - Stalin hatte diese aus Ostpolen vertrieben - zurückkehrt, lernt dort den polnischen Flüchtling Fortek Mackiewicz kennen und lieben. Doch das kommunistische Regime duldet keine Heirat zwischen einem Polen und einer deutschen "Kapitalistin" und erzwingt 1947 die Ausreise der Profés. Fast 60 Jahre später spürt die heute über 80jährige Elvira Fortek in Ostpreußen auf und heiratet ihn. Zugegeben, "Eine Liebe an der Oder" ist eine singuläre Geschichte, die für das Verhältnis zwischen Deutschen und Polen während des Kriegs nicht gerade typisch war. Doch gerade das Untypische daran, das so ganz und gar unaufgeregt und ehrlich daherkommt, bietet die Möglichkeit, das Typische des Krieges wie Haß und Gier, Rache- und Gewaltexzesse glaubhaft mitzutransportieren. Elviras Vater etwa, der Fabrikbesitzer Profé, wird nur deshalb nicht von den Russen erschossen, weil ein polnischer Zwangsarbeiter für ihn aussagt. Dies ist nur ein Teil dieser ungewöhnlichen Liebesgeschichte, die insgesamt an Eindringlichkeit und Glaubhaftigkeit gewinnt und niemals Gefahr läuft, zum Melodram à la Hollywood zu mutieren.

Doch ist es mehr als ein Anfang, denn schon zieht die ARD nach und dreht "Flucht und Vertreibung". Der Zweiteiler soll im Frühjahr laufen und schildert die Flucht einer ostpreußischen Gutsbesitzerin. Aber warum erst jetzt? "Weil man mit Deutschland die Grenzen von 1937 verband, waren Flucht und Vertreibung so lange tabu", erklärt die Drehbuchautorin und Co-Produzentin Gabriela Sperl die bisherige Problematik. Und die Schauspielerin Maria Furtwängler ergänzt: "Lange Zeit gab es wohl das Gefühl, das Leid der Deutschen nicht zeigen zu dürfen."


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