© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/06 15. Dezember 2006

Ein neuer Bürgerkrieg droht
Libanon: Erneut Massendemonstration gegen Regierung Siniora / Nachwirkungen des israelischen Bombardements
Günther Deschner

Der Druck auf die amtierende Rumpfregierung des Libanon unter Premier Fuad Siniora wächst, die innenpolitische Lage wird bedrohlich. Letzten Sonntag marschierten erneut mehrere hunderttausend Libanesen über die dreispurige Stadtautobahn in das Beiruter Zentrum, um an der - laut Armeeführung - "größten Menschenansammlung teilzunehmen, die es in Libanon je gegeben hat".

Die Demonstranten, überwiegend schiitische Muslime und Christen, kamen aus dem ganzen Land. Viele hatten die Nacht in der Zeltstadt der Dauerdemonstranten verbracht, die das "Grand Sérail", den Regierungssitz, seit den ersten Dezembertagen belagern. Vor den Fernsehkameras schwenkten verschleierte Musliminnen aus der Provinz und offenherzig dekolletierte Studentinnen aus der Hauptstadt einträchtig ihre Fähnchen mit dem Zedernwappen, die gelben Wimpel der schiitischen Hisbollah und die orangenen Tücher der christlichen Freien Patriotischen Bewegung des Ex-Generals Michel Aoun.

Sunniten kontra schiitisch-christliche Opposition

Scheich Naim Kassem, der Vizechef der libanesischen Hisbollah, kündigte an, "die Opposition" werde so lange auf der Straße bleiben, bis "Mister Siniora" zurückgetreten und eine neue "Regierung der nationalen Einheit" gebildet sei. Christenführer Aoun drückte aufs Tempo: Siniora müsse bereits "in den nächsten Tagen" Verhandlungen akzeptieren - oder sich auf weitere Aktionen einstellen.

Der Hebel dafür könnte eine Vorschrift der Verfassung sein: Derzeit stellt die Koalition unter Siniora 70 der 128 Parlamentsmitglieder. Nach den Ministern könnten auch die schiitischen Abgeordneten ihr Mandat niederlegen. Da die Verfassung des Landes aber zwingend vorschreibt, daß alle großen Religionsgemeinschaften in der Regierung vertreten sein müssen, wären Neuwahlen unvermeidlich. Der Machtkampf zwischen der von den USA und von EU-Politikern unterstützen Regierung Siniora und der schiitisch-christlichen Oppositionsbewegung hätte damit seinen Höhepunkt erreicht.

Katalysator für diese Entwicklung war im Sommer die Invasion der Israelis mit ihrer verheerenden Auswirkung auf das zerbrechliche konfessionelle Gleichgewicht. Das Resultat der Militäraktion war, wie amerikanische, deutsche und selbst israelische Analysten vorhergesagt hatten, nicht die Schwächung der Hisbollah, sondern ihre Stärkung. Sie hatte auf dem Gefechtsfeld und auch beim Wiederaufbau Durchhaltefähigkeit und Effizienz bewiesen. Nach dem Waffenstillstand hatte sie daher eine stärkere Teilhabe an der politischen Macht verlangt. Um die Forderung zu unterstreichen, waren im November die sechs Minister zurückgetreten.

Dieser Schachzug von Hisbollah-Chef Sayyid Hassan Nasrallah und seines Verbündeten Aoun traf das politische System des Libanon genau an seiner Sollbruchstelle - dem religiösen Proporz. Er war 1932, noch in der französischen Mandatszeit, entstanden. Die Religionen und Konfessionen sind seither entsprechend einem Schlüssel, der auf der Volkszählung von vor 70 Jahren beruht, am politischen System beteiligt. An erster Stelle kamen die Christen, dann die Sunniten, ziemlich am Schluß die Schiiten. Doch heute haben die Christen keine Mehrheit mehr, zwei Drittel der Bevölkerung sind Muslime. Die Schiiten sind die mit weitem Abstand stärkste Gruppe. Schätzungen gehen bis zu 35 Prozent.

Dieses Ungleichgewicht war schon eine der Ursachen des Bürgerkrieges von 1975 bis 1990. In den eineinhalb Jahrzehnten seit dessen Ende ist es nicht gelungen, das antiquierte System zu überwinden. Die schiitischen Siedlungsgebiete sind zudem in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung von Beirut sträflich vernachlässigt worden. Dies hat die Hisbollah und ihre Verbündeten gestärkt. Die Situation im Libanon lediglich auf den Gegensatz zwischen pro- und anti-syrischen Kräften zu versimpeln, trifft daher nicht den Kern der Sache. Die schwierige Aufgabe besteht darin, ein neues Wahlsystem einzurichten, das die politischen Kräfte - mit all ihren auch regionalen Verankerungen - gerechter als bisher repräsentiert.

Zerbrechen des Libanon nicht völlig ausgeschlossen

In der Arabischen Liga, der Dachorganisation der arabischen Staaten, wird seit Wochen daher an einer Kompromißformel gearbeitet, welche die Eskalation der Beiruter Krise stoppen soll. Angeblich sollen beide Lager - sowohl die von der Hisbollah angeführte Opposition als auch die Kräfte um Ministerpräsident Siniora - bereit sein, sich einer Vermittlung der Arabischen Liga zu stellen.

Wie am Dienstag zu vernehmen war, wollen Ägypten, Saudi-Arabien und Syrien einen Vorschlag präsentieren, wonach das Regierungslager der Opposition vier zusätzliche Ministerposten überlassen und vorgezogene Parlamentswahlen ermöglichen soll.

Die Opposition soll im Gegenzug dem internationalen Tribunal für die Aufklärung des Mordes an Ex-Premier Rafik Hariri (JF 48/05) zustimmen, in den syrische Geheimdienstler verwickelt sein könnten. Außerdem sollen die Straßenproteste beendet und der Neuwahl des Staatspräsidenten - seit 1998 ist der maronitische Christ und Ex-Armeechef Émile Geamil Lahoud im Amt - zugestimmt werden.

Sollten sich diese Vorschläge durchsetzen lassen, wäre die Krise für diesmal - in letzter Minute - entschärft. Sollte die Pattsituation aber andauern, wächst die Gefahr, daß beide Seiten stärkere Unterstützung von außen erhalten. Damit wäre das Zerbrechen des Libanon - und sogar ein neuer Bürgerkrieg - schon vorprogrammiert.

Foto: Christliche Demonstrantin mit Nasrallah-Plakat in Beirut: Neue "Regierung der nationalen Einheit"


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