© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/06 01/07 22./29. Dezember 2006

Das Antlitz des Herrn
Gott wohnt unter uns: Ein wahrer Krimi um das Muschelseidentuch von Manoppello
Georg Alois Oblinger

Das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt." (Joh 1,14) Dieses Geheimnis feiert die Kirche alljährlich an Weihnachten. Denn im Gegensatz zu anderen Religionen bekennt das Christentum: Gott hat eine konkrete menschliche Gestalt angenommen und als Mensch mitten unter uns gewohnt. Gerade diese Konkretheit ist das entscheidend Christliche und für Nichtchristen immer auch das größte Skandalon.

Ebenso skandalös muß auch jene alte Überlieferung anmuten, nach der Jesus auf dem Weg zur Kreuzigung sein menschliches Gesicht im Schweißtuch der Veronika abgebildet hat, woran in jeder katholischen Kirche eine Kreuzwegstation erinnert. Gibt es wirklich ein solches Tuch, das uns Jesu wahres Antlitz zeigt?

In einem der vier zentralen Pfeiler des Petersdomes in Rom wird ein solches Tuch aufbewahrt. Einmal jährlich wird es den Gläubigen - allerdings aus großer Distanz - zur Verehrung gezeigt. Schon lange heißt es, daß auf diesem Tuch außer einem großen dunklen Fleck leider nichts erkennbar sei. Einige meinen, dies liege am Alter des Tuches, andere halten das Tuch generell für einen großen Betrug.

Jetzt ist eine neue These aufgetaucht. Der deutsche Journalist Paul Badde, Historiker und Rom-Korrespondent der Welt, hat sie aufgestellt. Bis vor rund vierhundert Jahren zog das Schweißtuch der Veronika zahlreiche Pilger an. Auch sind sehr gute Beschreibungen vorhanden. Plötzlich reißt der Pilgerstrom ab, und das Tuch wird nun ganz anders beschrieben als in den Jahrhunderten zuvor. Badde vermutet, daß das Tuch gestohlen und durch eine Fälschung ersetzt wurde.

Damit noch nicht genug: Er behauptet, das geheimnisvolle Tuch mit dem wahren Antlitz Christi in dem kleinen Ort Manoppello wiedergefunden zu haben. In der Kapuzinerkirche Santuario del Volto Santo nahe dieser abgelegenen Kleinstadt in den Abruzzen wird ein seltsames Tuch aufbewahrt, das die Einwohner als "Volto Santo" (Heiliges Gesicht) bezeichnen. Es befindet sich dort angeblich seit 1506, seine Verehrung ist aber erst hundert Jahre später nachweisbar. Badde vermutet eine Rückdatierung, um den Diebstahl zu vertuschen.

Als "durchsichtiges Leinen" hat schon Martin Luther 1545 das Schweißtuch der Veronika beschrieben; und diese Beschreibung paßt genau auf das Tuch von Manoppello. Bei Gegenlicht erscheint das Tuch völlig transparent, ansonsten kann man ein Gesicht erkennen, das je nach Sonneneinfall immer wieder anders aussieht.

Badde glaubt, nun auch die Frage nach dem rätselhaften Material des Tuches endlich gelöst zu haben. Es handelt sich um Muschelseide, auch Byssus genannt, der teuerste Stoff der Antike. Paul Badde hat Kontakt aufgenommen mit der letzten noch lebenden Byssusweberin Chiara Vigo von der sardischen Insel Sant' Antico, und hat sie nach Manoppello geführt. Sie hat das Material des "Volto Santo" nicht nur als Muschelseide identifiziert, sondern auch bestätigt, daß sich dieser Stoff nicht bemalen läßt. Es verdichten sich die Hinweise auf eine übernatürliche Entstehung dieses "heiligen Gesichts".

Paul Badde hat zahlreiche Indizien für seine These zusammengetragen. Der Rahmen, in dem das Schweißtuch der Veronika ausgestellt wird, enthält zwei Kristallscheiben, so daß das Tuch von beiden Seiten betrachtet werden kann. Doch es ist nur ein Tuch bekannt, das zwei Ansichtsseiten hat: das "Volto Santo" von Manoppello. Auch zeigt dieses Tuch einen Jesus mit geöffneten Augen, so wie auch das Veronika-Tuch bis zum 17. Jahrhundert beschrieben und in der Kunst dargestellt wurde. Erst seit Beginn des 17. Jahrhunderts kursieren Darstellungen dieses Tuches, bei denen Jesus die Augen geschlossen hält.

Auch hat Badde interessante Übereinstimmungen zwischen dem "Volto Santo" und dem sogenannten Mandylion von Edessa gefunden, das als ältestes Abbild Christi gilt und für die gesamte Kunst der Ikonen als Vorbild dient. Ebenso deutlich sind die Parallelen zum berühmten Turiner Grabtuch, von dessen Echtheit Badde ebenfalls überzeugt ist. Wenn man das Manoppello-Tuch und das Grabtuch aufeinanderlegt, sind sie völlig deckungsgleich, auch die Wunden sind jeweils an der selben Stelle.

Durch die Nachforschungen eines deutschen Journalisten ist Manoppello plötzlich in der ganzen katholischen Welt zum Diskussionsthema geworden. Als Kardinal Joachim Meisner von Köln im April 2005 zu den Beerdigungsfeierlichkeiten von Papst Johannes Paul II. in Rom weilte, machte er zusammen mit Paul Badde einen Abstecher nach Manoppello. Und am 1. September 2006 reiste Benedikt XVI. zur 500-Jahr-Feier des "Volto Santo" nach Manoppello - als erster Papst der Geschichte. Als schließlich dann im November die deutschen Bischöfe zum sogenannten Ad-limina-Besuch in Rom weilten, nutzten viele von ihnen die Gelegenheit, den Gnadenort in den Abruzzen aufzusuchen und sich dort persönlich ein Urteil zu bilden.

"In Jesus Christus ist uns das wahre Gesicht Gottes erschienen." So rief Benedikt XVI. den Jugendlichen zu im Sommer 2005 beim Weltjugendtag in Köln. Auch ein für Frühjahr 2007 angekündigtes Werk Benedikts XVI. beschäftigt sich mit dem "Antlitz des Herrn". Das ist das Geheimnis von Weihnachten: Gott hat ein Gesicht; er ist ganz real in die Geschichte der Menschheit eingetreten. Wenn Paul Badde mit seiner These recht hat, scheint auch Manoppello ein Zeugnis für diese Botschaft zu sein.

Paul Badde: Das göttliche Gesicht. Die abenteuerliche Suche nach dem wahren Antlitz Jesu.Pattloch-Verlag, München 2006, gebunden, 320 Seiten plus 16seitiger farbiger Bildteil, 19,90 Euro

Foto: Die Reliquie "Volto Santo" ("Heiliges Gesicht") im Abruzzen-Dorf Manoppello (undatierte Aufnahme): Das Geheimnis von Weihnachten


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