© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/06 01/07 22./29. Dezember 2006

Eine Zukunft als kultureller Themenpark
Walter Laqueur malt ein düsteres Bild des demographisch dahinsiechenden alten Kontinents
Robert Hepp

Wenn einer im Alter von fünfundachtzig Jahren noch mit einem neuen Buch aufwarten kann, ist das allemal eine Leistung, die Respekt verdient. Der 1921 in Breslau geborene Walter Laqueur, von dem gerade im Propyläen-Verlag eine Streitschrift mit dem Titel "Die letzten Tage von Europa" erschienen ist, hat es weit gebracht nach seiner erzwungenen Emigration, die ihn zunächst nach Palästina führte.

Laqueur, Autodidakt, der nie studiert hat, war unter anderem Direktor der Wiener Library in London, Berater bei dem einflußreichen Center for Strategic and International Studies in Washington und Professor an mehreren amerikanischen Universitäten. Mit seinen zahlreichen Publikationen zur Zeitgeschichte und zum Terrorismus hat er sich auch hierzulande längst einen Namen gemacht. Man kann ihn zu den prominentesten Vergangenheitsbewältigern zählen. Wir verdanken ihm unter anderem den Nachweis, daß während des Weltkriegs niemand so recht an den Holocaust glauben wollte. In ein ideologisches Schubfach ist der Autor nicht einzuordnen. Unter Kennern seines Œuvres gilt der typische "Jugendbewegte" als ein linker Rechter, der schon immer für Überraschungen gut war. Bisher hat er allerdings die Fettnäpfchen des Zeitgeistes noch nie so dreist ignoriert wie in seiner neuesten Veröffentlichung, die man beim besten Willen nicht anders als fabelhaft unkorrekt nennen kann.

Schon der Titel der Schrift ist ganz dazu angetan, das Mißfallen unserer politischen Klasse zu erregen. Schließlich wird da ihr Lieblingskind schon totgesagt, bevor es noch geboren wurde. Tatsächlich wartet der Verfasser in seinem Buch im wohltuenden Kontrast zu dem ruchlosen Optimismus unserer Europaenthusiasten mit einem kohlrabenschwarzen Pessimismus auf, der alles hinter sich läßt, was je unter dem Stichwort "Eurosklerose" verhandelt wurde. Er erklärt zwar in der Einleitung, daß er die Wendung von Europas "letzten Tagen" nur als eine Metapher verstanden wissen möchte. Er will durchaus nicht ausschließen, daß der alte Kontinent noch zu einem "kulturellen Themenpark für Besucher aus China und Indien" werden könnte, "zu einer Art Disneyland auf kulturell hohem Niveau". Mit der Weltmachtstellung Europas ist es seiner Ansicht nach jedoch ein für allemal vorbei; seine "beherrschende Rolle in der Weltpolitik" gehört der Vergangenheit an.

Für jemanden, der noch 1992 eine Geschichte der europäischen Nachkriegszeit, die in deutscher Übersetzung zunächst unter dem Titel "Europa aus der Asche" herausgekommen war, in einer revidierten Neuauflage unter dem Titel "Europa auf dem Weg zur Weltmacht" erscheinen ließ, muß diese Einsicht eine echte Enttäuschung gewesen sein! Wie konnte, was vor vierzehn Jahren noch eine Weltmacht zu werden versprach, auf den Weg ins Nirwana geraten?

Der Autor räumt selber ein, daß diese Kehre erklärungsbedürftig ist. Er behauptet, sie sei darin begründet, daß in Europa erst in den letzten vierzehn Jahren die fatalen Auswirkungen eines radikalen sozialen Wandels sichtbar geworden seien. Als Hauptursache dieses Wandels wird von ihm der Geburtenrückgang namhaft gemacht, von dem er irrtümlicherweise meint, er habe überall in Europa bereits in den späten fünfziger Jahren eingesetzt und sei erst in den späten achtziger Jahren bemerkt worden, als seine üblen Folgen schon nicht mehr zu verhindern gewesen seien. Offenbar zählt der Historiker Laqueur zu den typischen Intellektuellen seiner Generation, die den Beginn der demographischen Katastrophe - der von den europäischen Bevölkerungswissenschaft­lern durchaus rechtzeitig erkannt wurde - verschlafen haben. Die Art, wie der Autodidakt mit gewissen Grundbegriffen der Demographie umgeht, zeigt, daß er nicht sonderlich mit der Materie vertraut ist: Zum Beispiel sind Fertilitätsraten und Geburtenziffern für ihn dasselbe. Bei einem Essay, wo es mehr auf spritzige Thesen als auf nüchterne Tatsachen und Argumente ankommt, sind dies läßliche Sünden.

Gravierender ist da schon das ständige Lavieren des Autors zwischen der Beschwörung der Konsequenzen eines Bevölkerungsschwundes einerseits und einer zunehmenden Einwanderung und Überfremdung andererseits. Er verwechselt ständig die nach den Modellrechnungen zu erwartende Abnahme der autochthonen Bevölkerung Europas mit der Entwicklung seiner Gesamtbevölkerung. Bei seinem Hauptargument für den politischen Niedergang Europas, dem Schluß von der überproportionalen Abnahme der Bevölkerung Europas auf seine schwindende politische Bedeutung, könnte es sich daher um einen Fehlschluß handeln, weil schon die Prämisse nicht stimmt. Für die Argumentation des Autors spricht allerdings seine Beobachtung, daß es schon jetzt keinem europäischen Staat gelungen ist, bestimmte zugewanderte Minderheiten zu "integrieren". Die farbigen Schilderungen der Parallelgesellschaften, die sich in den Ländern Europas aufgrund der laschen Wanderungspolitik herausgebildet haben, sind die am besten gelungenen Partien des Essays. Wer sie vorurteilsfrei auf sich wirken läßt, wird sich des Eindrucks kaum erwehren können, daß sich da à la longue ein unregierbares Chaos zusammenbraut.

Ein Leser der JUNGEN FREIHEIT wird aus diesen Berichten zwar kaum etwas Neues erfahren, aber Zeitgenossen, die ihre Informationen gewöhnlich aus amtlichen Quellen beziehen, werden vermutlich aus allen Wolken fallen, wenn sie die Ausführungen des Verfassers über die gescheiterte Integration der Muslime und die Zukunft eines muslimischen Europas lesen. Das ist wirklich starker Tobak! Man kann die Rezensentin einer Sonntagsausgabe der NZZ verstehen, wenn sie bei der Lektüre den Eindruck gewann, daß das freche Buch "Wasser auf die Mühle von Ausländerfeinden" leite.

Tatsächlich liegt dem Verfasser jedoch nichts ferner als eine solche Intention. Wenn man ihm glauben darf, hat er sich aus einem ganz anderen Grund für die letzten Tage Europas interessiert. Nach seinen Angaben hat ihn eine Handvoll neuerer Schriften, in denen das "Jahrhundert Amerikas" für beendet erklärt und das 21. Jahrhundert zum "Jahrhundert Europas" ausposaunt wurde, zu seiner Stellungnahme veranlaßt. Er erwähnt unter anderem Schriften des Trendforschers Jeremy Rifkin und des Historikers Toni Judt, in denen dem ruppigen Weltmachtstreben Amerikas der "europäische Traum" einer multilateralen "gerechten Weltordnung" als die bessere Alternative entgegenstellt wird. Mit seiner Streitschrift wollte er angeblich die Amerikaner vor diesen Träumereien warnen und ihnen zeigen, daß die hochgelobte "sanfte Ordnungskraft des 21. Jahrhunderts" weit davon entfernt ist, die amerikanische Weltmacht zu beerben, um ihr eigenes Überleben bangen muß.

Die Schrift wäre demnach ursprünglich als ein apologetischer Beitrag zu einer aktuellen inneramerikanischen Auseinandersetzung gedacht gewesen. Das würde erklären, warum bei den Schilderungen der europäischen Zustände seitenweise elementarstes politisches Allgemeinwissen referiert wird, was einem die Lektüre ernstlich verleiden kann. Diese Version ist jedoch schwerlich mit der Tatsache vereinbar, daß die Schrift bis heute in Amerika nicht erschienen ist. Es gibt nur die deutsche Übersetzung. Sollte das Original etwa als "geheimes" Gutachten an die amerikanische Regierung gegangen sein, um sie davon zu überzeugen, daß sie das "alte Europa" nicht mehr länger hofieren, sondern seinem Schicksal überlassen sollte?

 

Prof. Dr. Robert Hepp lehrte Soziologie an der Universität Osnabrück, dann bis zu seiner Emeritierung 2006 an der Hochschule Vechta. Er gilt seit den siebziger Jahren als profundester Mahner der demographischen Krise in Deutschland und Europa.

 

Walter Laqueur: Die letzten Tage von Europa. Ein Kontinent verändert sein Gesicht. Propyläen Verlag, Berlin 2006, gebunden, 208 Seiten, 19,90 Euro


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