© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/06 01/07 22./29. Dezember 2006

Jahresrückblick 2006: Vom Sommer- zum Wintermärchen
Wir sind Deutschland
Christian Dorn

Die Welt hat wieder Angst vor uns", resümierte der als "Team-Manager" tätige Oliver Bierhoff vergangenen Sommer. Da spielte die deutsche Nationalmannschaft zur Fußball-WM im eigenen Land noch hoffnungsvoll Richtung Finale. Unsere Republik, die bereits vor einem Jahr mit der aseptischen "Du bist Deutschland"-Kampagne ein - wieder mal verspätetes - "Nation-Branding" vorbereitet hatte, überraschte sich selbst mit einem schwarzrotgoldenen Rausch. Den hatte schon Heinrich Heine aus dem Exil zu beschwören versucht: "Pflanzt die schwarzrotgoldne Fahne auf die Höhe des deutschen Gedankens", so schrieb er im Vorwort zu "Deutschland, ein Wintermärchen".

Wirklich Angst haben muß die Welt nun nicht

Im Sommer nun begeisterte sich ein ganzes Volk, weil der neue Patriotismus so "entspannt" war. Die Deutschland erfassende Autosuggestion führte zu zahllosen Höhepunkten, so daß wir - metapolitisch - durchaus von einer "großen patriotischen Handentspannung" (FAS) sprechen können. Denn wirklich Angst vor uns haben muß die Welt nun nicht, das zeigte sich zuletzt an der Frage, ob die im Auslandseinsatz operierende Bundeswehr dort auch kämpfen solle. Es ist eben alles eine Frage der Definition.

In dieser lernte auch die Öffentlichkeit hinzu, als sie mit dem "Prekariat" Bekanntschaft schloß, anstatt sich altes wieder neu anzueignen, etwa das Wissen, daß eine "Unterschicht" womöglich wirklich so heißt. Im Boulevard hingegen schien eines so kostbar wie das andere: Babys im Müll waren genauso "brisant" wie die "Leute von heute", die uns Nina Ruge nun schon seit zehn Jahren nahezubringen versucht. Als sie jetzt ihren Abschied ankündigte, hätte man meinen können, "alles wird gut". Aber nein, das ZDF sucht nach einer Nachfolgerin. Das gleiche hat die ARD für Sabine Christiansen getan: Sie holt Günter Jauch, der alles wegmoderiert, egal, was oder wer da kommen mag.

Was kann man darüber hinaus aus dem sich zum Ende neigenden Jahr 2006 mitnehmen? Neben der Gewißheit, daß ein "Sommermärchen" nicht allzuweit trägt, bleibt wohl die Ahnung, daß es immer schwieriger wird, ein Thema zu wählen, das nicht gleich die Moslems beleidigt. Schon Rudi Carrell bekam das zu spüren, der in diesem Jahr von uns gegangen ist. In seiner "Tagesshow" hatte er 1987 gezeigt, wie der iranische Revolutionsführer Ajatollah Khomeini von seinen Anhängerinnen mit Damenunterwäsche beschenkt wird. Die sich daran anschließenden Morddrohungen gegen Carrell waren ein erschreckendes Novum, heute sind sie real.

Wir erinnern uns an die Mohammed-Karikaturen der dänischen Zeitung Jyllands-Posten, derentwegen die Muslime der Welt als wütender Furor auftraten, Botschaften in Brand steckten und Fahnen verbrannten; allein in Jemen gingen über 100.000 Frauen auf die Straße, weil sie sich verletzt fühlten. Wenn da ein Dutzend dänische Zeichnungen mit einem Spätzünder von mehreren Wochen schon solche Wirkung zeitigen konnten, müssen wir uns glücklich schätzen, daß ebendiese Musliminnen bislang nicht durch den Import westlicher Frauenrechte provoziert worden sind - und das, wo wir dieses Jahr wiederholt Exportweltmeister geworden sind. Claudia Roth hätte also gut daran getan, ihre alevitische Kollegin Ekin Deligöz zu ermahnen, als diese die Musliminnen in Deutschland aufrief, ihr Kopftuch abzulegen.

Groteske wie brutale Wirklichkeit

Nicht abgelegt, sondern abgestellt hatten zwei muslimische Studenten diesen Sommer ihre Koffer in zwei Kölner Regionalzügen, um - aus Rache für die Mohammed-Karikaturen - möglichst viele Bahnreisende ins Jenseits zu befördern. Die Rucksackbomber von England dienten wohl als Vorbild. Wenn sie Erfolg gehabt hätten, dann - wäre der von Roman Herzogs "Ruck" vielleicht doch durch Deutschland gegangen. Statt dessen kam Papst Benedikt XVI. zu Besuch. Er machte die neuartige Erfahrung, wie man durch einen wissenschaftlichen Vortrag in Regensburg eine katholische Nonne im Sudan töten kann. Gegen diese so groteske wie brutale Wirklichkeit war die blasphemisch herumblödelnde "Popetown"-Satire auf MTV ein Kinderspiel.

Nicht nur einen Koffer, sondern gleich eine ganze Regierungsbank in Berlin sicherte sich dagegen Klaus Wowereit. Anläßlich seiner zweiten Amtszeit schenkte er der Hauptstadt ein neues Motto: "arm, aber sexy". Ob das "auch gut so" war, scheint indes zweifelhaft nach der gescheiterten Finanzklage Berlins vor dem Bundesverfassungsgericht. "Wowi" sollte sich lieber mit der Losung "schwul, aber arm" identifizieren. Dennoch: Besser arm dran als Arm ab. Kopflos ist es noch schwieriger. Das bekam jetzt, zum Ende des Mozart-Jahres, die Deutsche Oper zu spüren, als sie die Oper "Idomeneo" aufführen wollte. Die in der Inszenierung gezeigten abgeschlagenen Köpfe der Religionsstifter, darunter Mohammed, wurden erst erhitzt diskutiert, dann waren sie verschwunden. Mal sehen, wer die Köpfe des Jahres 2007 sein werden.

Foto: Enttäuschte Fans nach dem Italien-Spiel: Mehr als nur eine Party


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