© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/07 5. Januar 2007

Vorbei mit der Ruhe
Richard Sennett und der Kapitalismus der Unstetigkeit
Peter Lebitsch

In Deutschland und Europa vagabundiert ein Gespenst - das Trauma der "Nutzlosigkeit". Vielen Menschen bietet die Wirtschaft keine dauerhafte Beschäftigung.

Nur wenige Firmen gewährleisten noch lebenslange Versorgung. Der Einzelne muß häufig Beruf, Wohnort und Arbeitsplatz wechseln. Erfahrung und Reife zählen nur noch bedingt.

Der Weltmarkt deformiert unser Leben, meint Richard Sennett, Dozent an der London School of Economics, der die "Apostel des neuen Kapitalismus" kritisieren will und doch oft ins Leere zielt.

"Wegen der globalen Ausbreitung der Produktion und Märkte" verlieren moderne Gesellschaften ihre Stabilität. Einst lebten die Menschen "fest verankert in soliden institutionellen Realitäten", deren "stahlhartes Gehäuse" militärisch funktionierte, Sicherheit versprach und Nischen zuwies. Von 1860 bis 1970 dominierten Ruhe und Stetigkeit.

Allerdings stimmt dieses Bild nur teilweise. Seit dem 18. und 19. Jahrhundert verursachte die Industrialisierung permanente soziale Brüche psychologischen und gesellschaftlichen Auswirkungen. Ganze Industrielandschaften mitsamt den Arbeiterquartieren entstanden beinahe über Nacht, genauso wie völlig neue Berufe. Erfahrung und ständiges Lernen bedingen einander. Insofern betraf auch der "alte Kapitalismus" ein "soziologisches Ganzes", wie Sennett es im "neuen Kapitalismus" erkennen will.

Zyklische Krisen gehörten zur Tagesordnung. Während der großen Depression um 1930 erfuhr der Kapitalismus eine ungeahnte Krise. Die fünfziger und sechziger Jahre gelten danach eher als atypisch. Quantitativ schrumpfte zwar das Personal etlicher Organisationen, aber deshalb verloren sie nicht an Bedeutung, zumal Banken, Börsen und Aktiengesellschaften sogar mehr Einfluß gewannen. Die soziale Ungleichheit explodierte. Im Jahr 1880 besaßen 4.000 englische Familien 43 Prozent des gesamten Vermögens in England. Derzeit sehe es ähnlich aus, schreibt Sennett und widerspricht sich damit. Obwohl die Gehaltsunterschiede zunehmen, erfolgt eher ein gradueller denn prinzipieller Wandel.

Richtig konstatiert Sennett, daß die Automatisierung viele Arbeitsplätze kostet. Daher bedarf es einer Generaldebatte darüber, welchem Ziel die Wirtschaft künftig dienen soll. Weder neue Techniken noch institutioneller Wandel stellen den Kern des Problems dar. Sennett zählt Krankheitssymptome auf, ohne sie stringent zu verknüpfen. Ins "eherne Gehäuse" führt kein Weg zurück.

Richard Sennett: Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin Verlag, Berlin 2007, broschiert, 160 Seiten, 8,90 Euro


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