© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/07 5. Januar 2007

Das eingekreiste Imperium
Peter Scholl-Latour betrachtet die Situation Rußlands vom Feldherrnhügel der Geopolitik
Wolfgang Seiffert

Das jahrzehntelange Wirken des Publizisten Peter Scholl-Latour ist so nachhaltig, daß niemand, der auch nur eine Publikation dieses großen Analytikers der Weltpolitik kennt, daran zweifelt, daß auch das jüngste Buch des bekannten Publizisten eine faszinierende Darstellung des Rußland von heute und seines Platzes in der internationalen Arena bringt.

Doch was dieses neue Buch für jeden Leser zu einem Erlebnis besonderer Art macht, ist nicht der Umstand, daß das russische Imperium unter Putin sein Objekt ist; es ist auch nicht die eindrucksvolle und sachkundige Schilderung der Tatsache, daß Rußland zwischen der subversiven Tätigkeit bzw. Förderung einer solchen durch die Nato und ihre forcierte Osterweiterung um die ehemaligen Sowjetrepubliken, dem ökonomisch prosperierenden China mit seiner die Milliardengrenze weit überschreitenden Bevölkerung und der im Süden aufbrechenden Gefahr radikaler Re-Islamisierung im wahrsten Sinne des Wortes in einen Zangengriff geraten ist.

Es ist vor allem das vom Autor offenbar gewollte offene, direkte und unverhüllte Aussprechen politischer Kernpunkte und nicht weniger deutlich benannter Konsequenzen. Schon auf den ersten zwanzig Seiten spricht Scholl-Latour davon: "Weder der Krieg im Irak noch der Feldzug in Afghanistan können von der westlichen Allianz gewonnen werden." Und die Konsequenz? "Ist es für die Europäische Union, ist es für Deutschland noch sinnvoll, der fragwürdigen Direktion der Nato untergeordnet zu bleiben und deren weltweite Strategie durch wahllose Einsätze 'out of area' zu unterstützen, die von Wa-shington vorgegeben werden und mit den eigenen Interessen nichts zu tun haben?" Und weiter: "Was hat die 'Alt-Europäer' - zumal die Deutschen - dazu bewogen, die Nato entgegen allen Zusagen bis an die Grenze Rußlands auszudehnen, als gelte es einen neuen kalten Krieg zu entfachen?"

Und: "So vorrangig die gewachsene und familiäre Verbundenheit mit Amerika auch sein mag, die Russische Föderation Wladimir Putins bietet sich als der ideale Wirtschaftspartner Deutschlands an. Zwischen beiden Ländern besteht kein Konfliktpotential mehr, sondern eine natürliche Komplementarität, die im Konkurrenzverhältnis zu den globalisierten US-Konzernen oft nicht zu entdecken ist."

Natürlich konnte Scholl-Latour nicht voraussehen, daß nur wenige Wochen nach dem Erscheinen seines Buches in den USA selbst ein Umdenkungsprozeß hinsichtlich der außenpolitischen Strategie begonnen hat, der weittragende Folgen haben kann. Denn solange der jetzige US-amerikanische Präsident George W. Bush im Amt ist, wird von den Empfehlungen der Baker-Kommission wohl nur wenig umgesetzt werden.

Doch diese Entwicklung bestätigt den Autor in frappanter Weise und verleiht den von ihm aufgeworfenen Fragen in bezug auf Deutschland und Europa nur noch mehr Gewicht und Dringlichkeit. Denn ist es nicht gerade angesichts der jüngsten Entwicklungen in den USA noch unaufschiebbarer, daß die deutsche Politik sich den Fragen Scholl-Latours stellt, will sie nicht der Zeit hinterherhinken nach dem bekannten Motto "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben"?

Der Wert dieses eindrucksvollen Buches besteht nicht zuletzt darin, daß der Publizist darin die Quintessenz seines gesamten Werkes zieht. Diese mehr oder weniger vorweggenommene Gesamtwürdigung des neuen Buches hindert uns gleichwohl nicht, auch die konkreten Abschnitte, Kapitel zu würdigen.

Der Autor bereist das Riesenreich von Weißrußland bis Wladiwostok - vor allem die dortigen Grenzgebiete -, besucht Tartastan und den russischen Osten, weilt am Ussuri, in der Mandschurei, in China und kehrt zurück in die Ukraine, wo er bei genauerem Hinsehen rasch zu dem Ergebnis kommt, daß es sich bei der im Westen so gelobten "Orangenen Revolution" um "Verfaulte Orangen" gehandelt hat.

Souverän schildert Scholl-Latour nicht nur seine Eindrücke in Rußland und China, sondern trifft auch immer wieder analytische Feststellungen: über das heutige Verhältnis zwischen Rußland und China, über das Vordringen der Nato "ostwärts", über die islamische Gefahr und die Gefährdung Rußlands durch diesen real existierenden "Zangengriff" - ohne zu übersehen, daß Gegenkräfte ebenso existieren wie ein kluges Reagieren Rußlands und Chinas auf diese Gefahren.

Das Bündnis, das sich heute zwischen Moskau und Peking entwickelt hat, hält Scholl-Latour zwar nicht für logisch, "wenn man die russische Geschichte bedenkt", aber er hält es für vernünftig. Die gemeinsamen Militärmanöver Chinas und Rußlands 2005 wertet er jedenfalls als den Versuch Pekings und Moskaus, "durch spektakuläre militärische Zusammenarbeit (...) deutlich zu machen, daß sie sich nicht gegeneinander ausspielen lassen, so problematisch ihre fernöstliche Nachbarschaft auf Dauer auch sein mag". Ähnliches gilt für Scholl-Latours Beobachtungen der inneren Entwicklung Rußlands.

Es bleibt die Frage, auf welche Weise es dem Autor immer wieder gelingt, zu zutreffenden und oft vorausschauenden Analysen zu gelangen. Offensichtlich handelt es sich um einen talentierten Analytiker, der allerdings nicht von zu Hause, vom Schreibtisch aus urteilt, sondern immer wieder die von ihm beobachteten Ländern bereist, mit eigenen Augen und in vielen Gesprächen mit kompetenten Gesprächspartnern danach sucht, die inneren Entwicklungen der Länder zu verstehen, die er analysiert.

Sein Einfühlungsvermögen in andere Völker und andere Denkweisen hilft ihm dabei, rät ihm aber auch, davon abzusehen, das westliche Modell der Demokratie einfach auf Rußland zu übertragen.

Den deutschen Politikern sollte Scholl-Latours neues Buch Anlaß sein, ihre Haltung zu Rußland erneut zu überdenken. Dazu zwingt nicht zuletzt, daß in den USA nicht nur ein Umdenkungsprozeß bezüglich der außenpolitischen Strategie begonnen hat, sondern das Risiko eines Dollarabsturzes und steigender US-Kapitalmarktzinsen zunimmt. In der Tat veranschlagt der Forschungsdienst des US-Kongresses die bisherigen Gesamtkosten der Besatzung des Irak, des Afghanistan-Krieges und anderer Aktivitäten im Rahmen des "Krieges gegen den Terror" auf 507 Milliarden US-Dollar. Sie erreichen damit fast das Niveau des Vietnamkrieges, der 531 Milliarden US-Dollar kostete.

Das US-Finanzministerium hat andererseits festgestellt, daß die Nettoströme an langfristigem Kapital in die USA von 114,4 Milliarden US-Dollar auf 65,1 Milliarden gefallen sind. Ebendies ist der Hintergrund für den fortschreitenden Verfall des US-Dollars, über den deutsche Medien ebensowenig berichten wie über den Einstieg des seit dem 1. Juli 2006 frei konvertierbaren Rubel in das internationale Finanzsystem, obwohl das eine wie das andere natürlich gerade seine Auswirkungen auf Deutschland mit seiner hohen Exportabhängigkeit hat.

Peter Scholl-Latour: Rußland im Zangengriff. Putins Imperium zwischen Nato, China und Islam. Propyläen Verlag, Berlin 2006, gebunden, 425 Seiten, 24, 90 Euro


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