© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 03/07 12. Januar 2007

Pankraz,
H. Arendt und der Ballon der Karrieristen 

Karrierismus ist "in". Sehr bezeichnend jetzt ein Aufsatz in der London Review of Books, wo episch breit darüber geklagt wird, daß die machtvolle Kritik am Karrieremachertum, die einst Hannah Arendt übte, nicht einmal in deren Jubiläumsjahr 2006 (hundertster Geburtstag) auch nur mit einem einzigen Wort gewürdigt worden sei. Statt dessen ertöne überall enthusiastisches Lob für die "taffen" Karrieremacher. Sie würden gefeiert als Gegenbild zum "Ideologen", der gefährlich sei, weil er zuviel denke und die Politik zu ernst nehme. Der Karrierist hingegen sei geistiger Selbstversorger, ein "cooler" Typ, ein Vorbild für die Jugend.

Arme Hannah Arendt! Sie neigte durchaus dazu, dem Wollen und Handeln, der "vita activa", den Vorrang zu geben vor dem bloßen Betrachten, der "vita contemplativa". Doch nie hätte sie sich träumen lassen, daß es nur wenige Jahre nach ihrem Tod in der westlichen Demokratie schick werden würde, vor "Zuviel Denken" zu warnen und die Figur des Karrieristen, die sie so haßte, zum Leitbild auszurufen. Es kommt eben immer schlimmer, als man denkt.

Ist der Karrierist aber denn wirklich jener "Vertreter gelassener Toleranz", jener "Inbegriff des Pluralismus und des gesunden Wettbewerbs", als den man ihn zur Zeit vielerorts anpreist und weiterempfielt? Wer das behauptet, leidet - günstigstenfalls - an schlechten Brillenverhältnissen. Für den Karrieristen bedeuten weder Toleranz noch Pluralismus noch gesunder Wettbewerb irgend etwas, das zeichnet ihn ja per definitionem aus. Er geht gegebenenfalls buchstäblich über Leichen. Oder, wie ein anderes Sprichwort sagt: "Einer hat Ehre, / oder er macht Karriere".

Jeder Mensch will in seinem Leben nach oben kommen, seine Lage verbessern, das ist eine Binsenweisheit. Indes, das heißt noch lange nicht, daß jeder ein Karrierist ist, ehrlos wird und eine Spur hinter sich herzieht, auf der lauter Kadaver liegen, verratene Freundschaften, preisgegebene Prinzipien, Untreue, Hinterhältigkeit und noch Schlimmeres. Die meisten Zeitgenossen, würde Pankraz zu urteilen wagen, verhalten sich speziell beim Nachobenkommen ziemlich tugendhaft, erspüren genau eventuelle Zumutungen und lehnen sie ab, auch wenn die "Angebote" verführerisch klingen.

Was heißt überhaupt "Karrieremacherei"? Anfänger, die sich mit Leidenschaft und Askese dem Lernen hingeben, um gute Abschlüsse zu erzielen, sind keine Karrieremacher. Aspiranten, die sich, um eine Anstellung bzw. eine Beförderung zu erlangen, ungewöhnlichen Bedingungen oder gar einem elitären Kodex unterwerfen, sind ebenfalls keine Karrieremacher. Nicht einmal jedes öffentliche Auswechseln von liebgewordenen Überzeugungen ist unbedingt ein Ausweis von Karrierismus. "Paris ist eine Messe wert", verkündete seinerzeit der Franzosenkönig Heinrich IV. - und trat zum Katholizismus über, um sein Land zu befrieden.

Es muß immer abgewogen und geprüft werden, auch beim Nachobenkommen. Was den Karrieristen vom "normalen" Ehrgeizigen unterscheidet, ist der Umstand, daß er gerade nicht prüft. Seine Perspektiven sind eingeschränkt und eindimensional. Er kennt die Fülle des Lebens und dessen ausschöpfbare Möglichkeiten gar nicht, er ist (außer daß er meistens ein Moralkrüppel ist) vor allem ein Wahrnehmungskrüppel, mit unterentwickeltem Geschmack und abgestorbener Sinnenfreude.

Anders könnte er das, was ihm beim Karrieremachen abverlangt wird, gar nicht ertragen. Er ist ja kein Dummkopf; zum Nachobenkommen um jeden Preis gehört eine gehörige Portion wache Intelligenz, scharfer Situationsblick, Schläue und Geistesgegenwart. Der typische Karrieremacher weiß mehr als sein jeweiliger Vorgesetzter, aber er darf es nicht zeigen, also muß er sich verstellen, muß schleimen und nach dem Mund reden. Die Existenz, die er führt, ist nicht die seine, er ist sich selbst ein Fremdling und kriegt das tagtäglich zu spüren.

Hannah Arendt hatte völlig recht, als sie diese Art von Karrierist als den typischen Gefolgsmann und Exekutor totalitärer Systeme beschrieb. Seine Gefolgschaftstreue erwächst nicht aus Überzeugung und Glaubensfestigkeit, sondern aus schlauer Berechnung und hemmungsloser Rücksichtslosigkeit. Seine Katzbuckelei nach oben kompensiert er genußvoll durch Treterei nach unten. Durch seine Beflissenheit werden die hehren Grundsätze, die in der Regel am Anfang totalitärer Herrschaft stehen, schnell blamiert und gewissermaßen zur Kenntlichkeit verändert.

Der Karrierist ist nichts weniger als ein Antipode zum Ideologen, wie Corey Robin von der London Review of Books glaubt. Fast das Gegenteil ist richtig. Systeme mit alleinseligmachender, angeblich überall "anwendbarer" Ideologie bieten Karrieristen von der geschilderten Sorte breite Aufstiegsbahnen, weil sie im Grunde von ihnen abhängig sind, nur von ihnen in Gang gehalten werden können. Karrieristen sind die geborenen Gleichmacher. Die Welt schnurrt für sie auf einige wenige Gebrauchsanleitungen aus irgendwelchen Trickkisten zusammen, und was darüber hinausragt, muß zurechtgehackt werden.

Daß sich nun auch der herrschende neoliberale Sozialkapitalismus diesen Tricksern und Zurechthackern öffnet und sie sogar als Erziehungsideal hinstellt, ist kein gutes Zeichen. Anhänger von Arendt könnten daraus den Schluß ziehen, daß wir am Anfang neuer totalitärer Zustände stehen, in denen nur noch Ideologen und Karrieristen etwas zu sagen haben.

Aus optimistischer Perspektive betrachtet, ist der ganze Karrieristenjubel aber vielleicht auch nur jene heiße Luft, die - gemäß einer weitverbreiteten Theorie - bisher von engagierten Systembetreibern noch in jedes Sozial- und Glaubenssystem hineingeblasen wurde, bis dieses schließlich explodierte. Nach genannter Theorie füllt das Geschwätz der Ideologen und Karrieristen den Systemballon allmählich bis zum Platzen auf, und plötzlich macht es peng!, der Ballon ist weg, und neue, realistische Aspekte werden sichtbar.


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