© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 03/07 12. Januar 2007

Mittelalter in der Moderne
Standort Heimat: Warum der Liberalismus wehrlos ist gegen die islamische Expansion
Thorsten Hinz

Im "Kommunistische Manifest" wird die Bourgeoisie Mitte des 19. Jahrhunderts als eine revolutionäre Kraft beschrieben. Sie habe die "feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse" zerstört und die Feudalbande zwischen den Menschen durch die "nackte Zahlung" ersetzt. Die menschliche Würde sei im Tauschwert aufgelöst und die Menschen mehrheitlich in abhängige Lohnarbeiter verwandelt worden. Außerdem habe sie "durch die Exploitation des Weltmarks die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet". Auch die geistigen Erzeugnisse der Nationen würden Allgemeingut.

Hier wurde benannt, was heute Ökonomisierung und Globalisierung heißt: die Transformation der Lebenswelt (oder Heimat) in einen Standort, des politischen Gemeinwesens in eine Firma, der religiösen, kulturellen, geschichtlichen Überlieferungen in ein Logo oder eine Pointe. Marx und Engels begrüßten diese Entwicklung in der Annahme, daß die Bourgeoisie so zu ihrem eigenen Totengräber würde. Indem sie nämlich die Herausbildung besitz- und bindungsloser Menschenmassen forcierte, würde deren Blick auf die ökonomische und soziale Frage gerichtet. Das wäre die Voraussetzung für die kommunistische Weltrevolution, an deren Ende die Assoziation freier Menschen stehen sollte.

Diese zwei Tendenzen sind wirksam bis heute, seit 1989/90, als der sozialistische Alternativentwurf zum Kapitalismus offiziell gescheitert war, freilich in veränderter Konstellation. Der Traum einer weltweiten Menschengemeinschaft, die durch die Einebnung nationaler, kultureller, religiöser Differenzen und Grenzen zum Bewußtsein ihrer Zusammengehörigkeit gekommen und durch den sozialen Fortschritt befreit worden ist, geht nun Arm in Arm mit dem bourgeois-kapitalistischen (heute würde man sagen: wirtschaftsliberalen) Ideal der globalen Vereinheitlichung durch die offene Weltwirtschaft.

Die Schleifung der Differenzen durch eine sozial angehauchte Menschenrechts-ideologie und die Standardisierung der Ansichten und Bedürfnisse, die daraus folgt, kann dem Kapitalisten nur recht sein, denn sie verbilligt Produktion und Absatz seiner Massenwaren. Der Neue Mensch, das ist der hedonistische, fortschrittliche, multikulturelle Konsument. Seine Kathedralen sind die Kaufhäuser mit Dritte-Welt-Abteilung und ökologischem Reinheitsgebot.

Dieser domestizierte Mensch glaubt daran, daß die Konflikte zu Hause im eigenen Land und weltweit durch Sozialtechnik zu lösen sind, das heißt: Er ist entpolitisiert. Wer in den 1990er Jahren politisch sozialisiert wurde, der erfuhr, daß Deutschland nur von Freunden umgeben und Ideologien sämtlich tot seien, daß die New Economy, die Pop-Literatur und die Spaßgesellschaft die Realität bildeten.

Die New Economy ist längst zusammengebrochen, die Pop-Literatur vergessen, der 11. September 2001 machte dem Spaß ein Ende. Im Gefolge der Globalisierung (Wanderungsbewegungen) sehen wir uns jetzt im eigenen Land mit einer religiösen Glaubensstärke und Energie konfrontiert, die unsere verkümmerten Vorstellungen von der Religion übersteigt und andererseits den Muslimen die Kraft verleiht, ihren Anteil am Konsum, am Sozialsystem, am öffentlichen Raum, an der Politik energisch einzufordern, ohne sich deswegen die Grundlagen, auf denen der Staat offiziell beruht, zu eigen zu machen.

Das nächstliegende Beispiel ist die Trennung von Religion und säkularisiertem Staat, die der Islam virtuos ausnutzt, ohne sie für sich selber zu akzeptieren. Der Westen hat uns arm gemacht und zur Auswanderung in seine Metropolen gezwungen; eine Frechheit von ihm, nun auch noch zu verlangen, uns anzupassen und unsere Religion und Kultur aufzugeben - so in etwa lautet die interne Argumentationslinie. So wenig sich diese Gläubigen vom Wirtschafts- und Menschenrechtsliberalismus korrumpieren lassen, so wenig bildet dieser eine Basis, von der aus man der islamischen Expansion entgegentreten kann.

Der Islam tut nur das, was eine monotheistische Religion, die sich selbst beim Wort nimmt, eben tun muß. Der Streit, welche Religion an ihrer Wurzel die friedfertigere ist, geht am Problem vorbei. Wir haben es mit einer ungeheuren Ungleichzeitigkeit zu tun; mit dem massenhaften Auftauchen des Islam in Europa ist gleichsam das Mittelalter neben die Moderne getreten. Diese Kluft überbrückt kein interreligiöser Dialog. Ein hypothetischer Versuch des Westens, zur christlichen Volksfrömmigkeit zurückzukehren, trüge wiederum den Stachel in sich, daß diese Rechristianisierung auf einer rationalen bzw. politischen Entscheidung beruht und durch eine solche auch wieder beendet werden kann. Er wäre in sich brüchig und kraftlos. Außerdem sind die Säkularisierung, Rationalisierung, die Lust am Zweifel, an der Ironie, also alles, was unter dem Stichwort Aufklärung zusammengefaßt wird, so sehr Teil unserer eigenen Grundlagen, daß der Abschied davon ebenfalls einer Selbstaufgabe gleichkäme.

Nötig ist vielmehr, sich der Geschichtlichkeit, der eigenen und der der anderen, bewußt zu werden. Sogar "unsere liberal-libertäre Selbstbezogenheit" (Botho Strauß) ist ja nur aufgrund kultureller und religionsgeschichtlicher Entwicklungen möglich, auch wenn die hedonistische Gegenwartsfixierung nichts von ihnen weiß.

In diesem Bewußtseinswandel liegt die Chance, das Politische wiederzuentdecken. Am Anfang stünde dann das Sortieren der Einlaß begehrenden Fremden in solche, die zu uns passen oder nicht, und das der Eigenen in solche, die die Neuentdeckung des Politischen befürworten oder bekämpfen.

Allein die USA erscheinen heute dem Islam gegenüber genügend wehrhaft zu sein (in einer selbstgefällig-naiven Weise allerdings, die für den Westen neue Gefahren heraufbeschwört), weil sie als einzige Macht aus zwei Weltkriegen uneingeschränkt siegreich hervorgegangen sind. Deutschland sieht sich nach zwei Niederlagen noch immer in universeller Reparationspflicht, und auch Frankreich und Großbritannien zählten nicht wirklich zu den Siegern. Frankreich wollte lange keine Nationalitäten und Religionen mehr kennen, nur noch republikanische Franzosen, und die Einwanderung als machtpolitischen Trumpf ausspielen. Großbritannien gerierte sich als multikulturelles Musterland, um sein Empire wenigstens symbolisch zu bewahren.

An die Stelle des Verzichts, der Kompensation durch politische Romantik und der Dominanz des Wirtschafts- und Menschenrechtsliberalismus muß eine realitätsnahe Freund/Feind-Kennung treten. Das ist die letzte Chance.

Foto: Menschenmassen strömen in der Hamburger Innenstadt durch die Europa-Passage: Marx und Engels wären entzückt


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