© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 03/07 12. Januar 2007

Der Sprung ins Dunkle
Lüder Meyer-Arndt attestiert dem Deutschen Reich bei der Julikrise im Vorfeld des Ersten Weltkrieges allenfalls Fahrlässigkeit
Andreas Mergner

Als der deutsche Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg eine Woche nach Kriegsausbruch von seinem Vorgänger Bernhard von Bülow gefragt wurde, wie das alles habe kommen können, soll er geantwortet haben: "Ja, wer das wüßte!" Lüder Meyer-Arndt will es wissen und befragt dazu die deutschen Dokumente zur Julikrise. Die vorliegende Analyse beschränkt sich auf die Betrachtung der Vorgänge auf deutscher Seite zwischen dem 28. Juni und dem 4. August 1914. Die Fragestellung des Autors ist, warum die Verantwortlichen auf deutscher Seite einem Krieg, bei dem man nichts zu gewinnen hatte, nicht ausgewichen sind, obwohl es möglich gewesen sei. Er möchte dabei nicht die für Generationen bewegende Kriegsschuldfrage neu aufwerfen, sondern die Frage nach der Verantwortung nach innen, also gegenüber dem deutschen Volk stellen.

In der Verantwortung stand etwa Reichskanzler von Bethmann Hollweg, an dem der Autor kein gutes Haar läßt und der als dem Amt nicht gewachsen beschrieben wird. In der Tat zeigt sich Bethmann in der Krise überaus passiv und läßt dem Verhängnis seinen Lauf. Auch der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Gottlieb von Jagow, zählt zu den verantwortlichen Personen der Julikrise. Er beging viele Fehler und nahm den Krieg hin, ohne ihn jedoch zu wollen. Noch am 1. August ergriff er ein mißverstandenes englisches Angebot, erleichtert über den vermeintlichen Prestigegewinn. Heinrich Leonhard von Tschirschky indessen, deutscher Botschafter in Wien, erscheint als die vielleicht entscheidende Person. Alle Mahnungen und Drohungen aus Berlin schwächte er in Wien ab. Zu seinem und seines "Komplottpartners" Leopold Graf von Berchtold sträflich-kriminellen Verhalten am 28. Juli stellt der Autor die richtigen Fragen.

Was gerne falsch dargestellt wird, findet hier seine Richtigstellung. Die militärische Führung Deutschlands hat in der Julikrise nicht auf einen Krieg hingearbeitet. Auch am 29. Juli riß sie nicht, wie gerne behauptet wird, die Krisendiplomatie an sich, wenn sie auch fassungslos über die Inkompetenz der Zivilisten war. Generalstabschef Helmuth von Moltke plädierte in den ersten 27 Tagen der Krise nicht für einen europäischen Krieg. Seine Kriegsunwilligkeit geht aus seinem Memorandum noch vom 28. Juli deutlich hervor. Die Schreiben des preußischen Kriegsministers Erich von Falkenhayn sind ebenfalls unvereinbar mit jeder Präventivkriegsthese. Auch Tirpitz wollte den Krieg nicht. Die russische Teilmobilmachung wurde von ihnen allen hingenommen. Mit der Entscheidung zur eigenen Mobilmachung tat man sich schwer.

Eine Schuld Kaiser Wilhelms II. sieht der Autor zum einen im "Blankoscheck" an Österreich-Ungarn vom 5. Juli, zum anderen in der Besetzung wichtiger Positionen mit mittelmäßigen Männern - ein Mittelmaß, über das man sich allerdings heute freuen würde. Zusätzlich tragisch war, daß er so schlecht informiert wurde. Nach Aussage Moltkes habe er selbst vom Schlieffenplan nichts gewußt. Bei allen starken Worten ist die Friedensliebe des Monarchen nicht zu übersehen. Diesem Mann hat man sehr unrecht getan. Der britische Historiker und Wilhelm-Biograph John C. G. Röhl tut es bis heute.

Den Verantwortlichen auf deutscher Seite machten nicht nur die Unzuverlässigkeiten der eigenen Mitarbeiter in Wien zu schaffen. Auch das verbündete Österreich-Ungarn machte mit dem Verschweigen seiner Ziele und seiner Scheu davor, sich festzulegen, eine Friedenserhaltung sehr schwer. Bis in die letzten Tage der Krise hinein etwa hat es Wien vermieden, Berlin über den Umfang der Aktion gegen Serbien zu informieren. Viel zu früh erklärte Wien Serbien den Krieg, obwohl man doch wußte, daß man sowieso erst ab dem 12. August mit Operationen beginnen konnte. Als Berlins deutliche Warnungen dann endlich am 30. Juli Wien erreichten, war es durch die allgemeine Mobilmachung Rußlands bereits zu spät. Mit dem "Weltbrandtelegramm" nahm man in Deutschland für den Erhalt des Friedens auch einen Bruch mit dem einzigen Verbündeten in Kauf. Die Aussage Meyer-Arndts, Deutschland hätte sich über ein Ausscheiden Österreichs aus dem Zweibund freuen sollen, beweist nur dessen mangelhaftes Verständnis der Gesamtlage. Ebenso irrig ist seine Behauptung, das anhaltende Wirtschaftswachstum Deutschlands hätte im Laufe der Zeit die militärische Überlegenheit der Gegner ausgeglichen und die Ausgangslage der Mittelmacht verbessert. Es ist naiv zu glauben, alles wäre gut gegangen, wenn Deutschland nur stillgehalten hätte. Eine Verzichtspolitik hätte die kriegerischen Tendenzen der Gegenseite nicht beseitigt.

Als Hauptmotiv, dem Verbündeten bedingungslosen Beistand zu versprechen und den Krieg hinzunehmen, macht der Autor den Begriff der Ehre aus. Hierfür fehlt ihm allerdings jegliches Verständnis. Das mag heute, wo Ehre im kleinen ABC der Politik nicht mehr vorkommt, nicht verwundern. Damals hatte man eben andere Maßstäbe. Betrachtet man die Vorgeschichte des Konflikts, so bestimmte die Ehre das Handeln aller Beteiligten. Übrigens darf man nicht vergessen, daß für Österreich-Ungarn die Frage der Ehre hier auch eine Existenzfrage war. Eine kampflose Abdankung von Nationen gibt es erst in unserer Zeit.

Im Ergebnis seiner Arbeit bestätigt der Autor die bekannte Polyphonie und den mangelhaften Austausch der Ressorts, der zu keiner einheitlichen Linie der Politik führte. Mit den haarsträubenden und unverantwortlichen Fehlern der Entscheidungsträger, die zu diesem "grauenhaften diplomatischen Unfall" führten, ist man der Verantwortung, das Land aus einem nicht gewollten Krieg herauszuhalten, nicht gerecht geworden. Mag sein, daß keiner der Handelnden durch Begabung oder Weisheit auffiel. Aber das galt im gleichen Maße für die Entente, von einem Vergleich mit anderen Zeiten ganz zu schweigen. Es geht jedenfalls zu weit, Deutschlands Problem in der Julikrise auf ein personalpolitisches zu reduzieren. Hier scheitert der isolierende Ansatz des Autors. Weniger Personen als Konstellationen haben die Situation geprägt.

Daß der Autor Jurist ist, hat angesichts des Gegenstandes seine Vor- und Nachteile. Es scheint ihm unmöglich, sich in das Denken einer anderen Zeit zu versetzen. Nur so läßt sich auch die wunderliche Vorstellung Meyer-Arndts erklären, daß man sich nur auf Kriege einlassen dürfe, die man sicher gewinnen könne. Gut deckt der Autor aber die Haltlosigkeit von abenteuerlichen Rechtsansichten auf. So verdienstvoll die vorliegende Studie auch ist, verständlich bleibt die Urkatastrophe wie gesagt nur unter Einschluß einer Betrachtung der Vorgeschichte und der anderen Beteiligten.

Zum Verständnis des Handelns und Nichthandelns in der Julikrise muß man auch die über allen hängende fatalistische Erwartung des Krieges, der einmal kommen mußte, in Betracht ziehen. Vor dem Hintergrund der weltpolitischen Gegebenheiten wird man dieser Stimmung ihre Berechtigung nicht absprechen können. Die Schwäche demokratischer Geschichtsschreibung, das Volk immer als friedliebend zu betrachten, hilft beim Verständnis der Situation auch nicht weiter. Ebenso läßt man die Schuld der Presse am Schüren einer verderblichen Stimmung gerne unter den Tisch fallen. Es gibt auch keinen Grund, den Friedenswillen der Entente zu überschätzen. Daß England unter allen Umständen "mitkriegen" würde, kitzelte der deutsche Botschafter Karl Max von Lichnowsky schließlich noch aus dem britischen Außenminister Edward Grey vor Kriegsbeginn heraus. Die Einkreisung Deutschlands war mehr als nur eine Einbildung.

Die russische Teilmobilmachung war auch in ihrem Umfang völlig unangemessen und wurde zudem noch unter Ehrenwort geleugnet. Die französisch-russische Militärkonvention machte es Rußland möglich, einen Automatismus von Mobilmachungen und Krieg in Gang zu setzen, wann immer es ihm paßte. Auch Frankreich gab im Juli Rußland einen Blankoscheck und Rußland den Serben jede nur denkbare Ermutigung.

Auch wenn dies nicht die leitende Absicht des Autors war, so entlastet seine Arbeit das Deutsche Reich insgesamt doch auffällig. Die Vorgänge belegen es, und Meyer-Arndt spricht es auch deutlich aus: "Die deutschen Entscheidungsträger haben den Krieg nicht gewollt. (...) Nichts von dem, was an Dokumenten aus diesen drei Wochen vorliegt, deutet auf absichtliche Entfesselung eines Hegemonialkriegs hin." Den frühesten Entschluß zum Kriege auf deutscher Seite datiert der Autor auf den 1. August, 11.00 Uhr. Die deutschen Entscheidungsträger waren stets auf eine Begrenzung des Konflikts aus, und bei allen Fehlkalkulationen und Fehlentscheidungen fehlte ihnen doch der Wille zum Krieg. Man ließ ihn kommen, und da Österreich im Recht war, mußte Deutschland seine Bündnispflicht erfüllen. So sah man das damals. Der britische Historiker Niall Ferguson hat dazu auch bemerkt, daß "Deutschland die einzige Macht in Europa (war), die sich gegen die Förderer des Terrorismus auf die Seite des Terroropfers stellte". Auch so kann man es sehen.

Dem Autor ist sicher darin zuzustimmen, daß ein "Halt in Belgrad" eine sinnvolle Lösung hätte sein können. Auch die unterlassene Fahrt eines Sondergesandten des Kaisers nach Wien war eine verpaßte Chance.

Leider übernimmt der Autor hinsichtlich der betrachteten Personen alle Gehässigkeiten der Zeitzeugen und der Historiker. Keine Herabsetzung, der er nicht zustimmt. Der Historiker (und auch der Jurist) sollte um Fairneß gegenüber Personen bemüht sein, die zum Teil schon vor den Ereignissen keine Fürsprecher hatten und danach als Verlierer diskreditiert waren.

Bei seiner chronologischen Vorgehensweise kommt der Autor nicht umhin, mitunter größere Einschübe zu setzen. Die nicht immer streng eingehaltene Chronologie erfordert gerade in der Rekonstruktion des Geschehens der letzten Tage ein konzentriertes Lesen.

Das Buch ist äußerst packend geschrieben, wobei es seine Spannung in erster Linie dem dramatischen Gegenstand verdankt. Mit dem letzten Kapitel, welches zur Abrechnung mit den Kollegen vom Fach verkommt, tut der Autor sich und seiner wertvollen Arbeit jedoch keinen Gefallen.

Dem Vorwort des Bremer Emeritus und Fritz-Fischer-Schülers Imanuel Geiss merkt man an, wie schnell es dahingeworfen wurde. Liest man, wieviel Entlastendes für die deutsche Führung in diesem Buch steht, so fragt man sich, wie Geiss es über sich bringen konnte, überhaupt ein derart mit der heißen Nadel gestricktes Vorwort beizusteuern. Da von Abfassung desselben bis zur Erscheinung des Buches ein halbes Jahr vergangen ist, hätte man zumindest eine sorgfältige Korrektur erwarten können - und sei es nur in Hinblick auf die gröbsten Grammatikfehler. Scheinbar blieb keine Zeit für eine formale Überarbeitung und Korrektur der Rechtschreibfehler, der Vertauschung von Bildunterschriften oder leerer Textfelder. Für den Benutzer nachteilig sind das Fehlen der zweiten Seite des Inhaltsverzeichnisses und die eigenwillige Form des Anmerkungsteils. Gerade bei einem so wichtigen Buch sind diese Schlampigkeiten des Verlages besonders ärgerlich. Für das Verständnis unserer Zeit und erst recht der Zeit des Dritten Reiches ist eine Beschäftigung mit der nicht umsonst so genannten "Urkatastrophe" des Erstes Weltkrieges unverzichtbar, "eines dunklen Kanals, durch den die Menschheit in eine neue Szenerie geschleudert wurde, in der sie sich bis heute nicht zurechtzufinden vermag". Bei allen Schwächen hat Meyer-Arndt hierzu einen wichtigen Beitrag geleistet.

Lüder Meyer-Arndt: Die Julikrise 1914. Wie Deutschland in den Ersten Weltkrieg stolperte. Böhlau Verlag, Köln 2006, gebunden, 407 Seiten, Abbildungen, 24,90 Euro

Foto: Der Kaiser beim Manöverbesuch in Döberitz vor seiner Nordlandreise, Juli 1914: Friedensliebe des Monarchen war nicht zu übersehen


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