© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 04/07 19. Januar 2007

"Die Lage für einen Krieg ist so günstig wie nie"
Sensationelle Archivfunde belegen kriegerische polnische Expansionsgelüste schon zu Zeiten der Weimarer Republik
Stefan Scheil

"Polen greift an!" hieß es in der Weimarer Zeit gelegentlich alarmierend. Das schien den meisten Deutschen so unwirklich und unfaßbar wie die Zerrüttung und der politische Zerfall des deutschen Staates insgesamt. Es klang zu absurd. Eben noch mußte und konnte man einen Weltkrieg auf Augenhöhe mit den Weltmächten der Zeit austragen, und nun sollte kurz vor Berlin mit der Republik Polen in zähem Kampf um einzelne Dörfer gestritten werden. Dabei stand in den Jahren 1932 und 1933 der polnische Marsch nach Westen näher bevor als von manchen vermutet. Das zeigen zwei bisher unbekannte Briefe des damals kommenden polnischen Außenministers. Der Inhalt war von österreichischen Kontaktleuten in Warschau zeitnah ermittelt worden, und die Bundes-Polizeidirektion in ­Wien leitete Anfang November 1932 die Information vertraulich an Bundeskanzler Engelbert Dollfuß weiter: Polen sollte in die Offensive gehen.

"Wenn es den Leitern der Außenpolitik der Republik gelungen ist, die Sicherheit der Ostgrenzen des Staates durch Abschluß des Nichtangriffspakts mit Sowjet-Rußland zu garantieren, so kann diese Tatsache nur eine Bedeutung haben: sie macht uns die Hände gegenüber Deutschland frei." Mit diesen Worten appellierte der Oberst und bis dahin stellvertretende polnische Außenminister Józef Beck im Oktober 1932 an Marschall Piłsudski, den diktatorischen Lenker der Staatsgeschäfte. Er forderte den sofortigen Angriff auf Deutschland und hatte dabei den kurz vor der Ratifizierung stehenden Nichtangriffsvertrag mit der UdSSR im Blick. Die Lage sei deshalb jetzt so günstig wie nie für einen "Krieg, um die Befreiung der polnischen Territorien vom deutschen Joch" anzugehen. Die Armee sei bereit.

Aggressionspläne gegen beinahe alle Nachbarstaaten

Was sich aus heutiger Perspektive geradezu unfaßbar militant anhört, gehörte für Józef Piłsudski, und nicht nur für ihn, seit Jahren zum Alltag. Osteuropa war von den alliierten Siegermächten des Ersten Weltkriegs nach kurzer Zeit weitgehend sich selbst überlassen worden. Folgerichtig zählte in den nächsten Jahren dort nur die Macht, die aus den Gewehrläufen der Region kam. Einige französische Truppen standen zwar noch im deutschen Memelland, das sich die Sieger im Versailler Vertrag zur freien Verfügung über Mensch wie Vieh hatten abtreten lassen, um es später nach einer polnischen Eroberung Litauens an Polen übergeben zu können. Sie blieben jedoch unbeteiligte Zuschauer, als schließlich litauische Einheiten das Gebiet okkupierten.

Zu den typisch vagen und unsicheren Verhältnissen vor Ort gehörte es, daß im Polen der Zwischenkriegszeit vielerorts wohlfeile Pläne erörtert wurden, wie die bestehenden Grenzen auf Kosten verschiedener Nachbarstaaten geändert werden konnten, durch deren Teilung oder Annexion, in jedem Fall aber zugunsten Polens. Eine generelle Angriffsrichtung gab es nicht. Nachdem seine eigene Attacke auf die UdSSR zur Eroberung der Ukraine und Weißrußlands mit einem fahlen Kompromißfrieden zu Ende gegangen war, visierte Piłsudski selbst gern die Tschechoslowakei an, die er als "europäische Unmöglichkeit" bezeichnete und deren Zerschlagung er befürwortete. Zugleich hielt er die Hauptstadt des Nachbarstaats Litauen Wilna besetzt und zog an der polnisch-litauischen Demarkationslinie ein Grenzregime auf, das sich in etwa an den Zuständen der späteren innerdeutschen Grenze orientierte.

Das Piłsudski-Polen betrachtete den damaligen Verlauf der europäischen Grenzen nur als das Minimum, was Polen eigentlich zustand, schrieb der französische Botschafter in Warschau. Die Piłsudskisten wollten alles behalten, was Polen bereits in Versailles zugesprochen worden war, aber zugleich hatten sie wenigstens nach drei Richtungen geheime und uneingestandene Ziele.

Daher drängten die Debatten nationalistischer Hitzköpfe, ob man zuerst Minsk, Dünaburg oder Königsberg annektieren sollte, bei zahlreichen Gelegenheiten auf Piłsudski ein. Der Mythos, es gäbe in der Weimarer Republik irgendwelche urpolnischen Gebiete zurückzuerobern, gehörte dabei zur erweiterten Grundausstattung radikaler Gruppen. Einerseits waren sie ein nützliches Element, das sich immer zur Begründung von kompromißlosen polnischen Verhandlungspositionen vorweisen ließ. Andererseits machten sie dem Diktator mit allzu lauten Äußerungen seit langer Zeit das außenpolitische Leben schwer. Oft genug war ihm nichts anderes übrig geblieben, als sich deutlich zu distanzieren. Ein paar Jahre zuvor hatte er gegenüber dem deutschen Außenminister Gustav Stresemann zugeben müssen, daß manche Kreise in Polen "mit der Eroberung Ostpreußens liebäugeln". Er erkläre diese Leute zu "Narren". Stresemann sei ermächtigt, von dieser Äußerung öffentlich Gebrauch zu machen.

Die Differenz zwischen Narren und klugen Außenpolitikern bestand für Piłsudski vorwiegend in der genauen Beobachtung der internationalen Szene. Spätestens an der deutschen Grenze endete Osteuropa und damit die Zone, in der durch kleine Militäraktionen leicht Tatsachen zu schaffen waren, das wußte er. Einen Angriff auf Deutschland konnte die Republik Polen nie zu einem erfolgreichen Ende bringen, wenn es dafür nicht die politische Billigung der Westmächte Frankreich und Großbritannien gab. Er würde sich andernfalls nur dahinschleppen, teuer werden und bei einem bloß zweiseitigen deutsch-polnischen Krieg früher oder später wahrscheinlich sogar mit einer Niederlage enden. Diese westliche Zustimmung aber war bisher nicht zu finden.

Ungeachtet dessen herrschte bei den entscheidenden Stellen in Deutschland im Jahr 1932 kein Zweifel über die polnischen Angriffsabsichten. Was für die Öffentlichkeit angesichts der innenpolitischen Verhältnisse ein Randthema blieb, erforderte sofortige Gegenmaßnahmen, Reichswehrminister Wilhelm Gröner bereiste im März des Jahres Ostpreußen und warnte die Republik Polen in Reden und Aufsätzen vor einem Angriff. Seit dieser Zeit begann man in Ostpreußen mit dem Bau einer improvisierten Verteidigungslinie, um den polnischen Marsch auf Königsberg im Fall der Fälle wenigstens eine Zeitlang aufhalten zu können.

Nach Becks Brief verstärkte Piłsudski seine außenpolitischen Anstrengungen. Die Meinung des Obersten galt ihm etwas, hatte man doch bereits im Ersten Weltkrieg in der polnischen Legion gemeinsam gekämpft. Piłsudski hatte Beck später persönlich für den diplomatischen Dienst entdeckt. Wenige Tage nach Erhalt des Briefs beförderte er ihn jetzt vom Stellvertreter des Ministers zum Leiter der polnischen Außenpolitik. Letzten Endes vererbte er ihm den Posten förmlich, so daß Beck bis zur Katastrophe von 1939, als ihm alle Voraussetzungen für einen erfolgreichen Krieg gegen Deutschland endlich erfüllt schienen, weitgehend frei schalten und walten konnte. Dabei wurde er von einem gehobenen Wertgefühl getragen, das sich gelegentlich in kuriosen Selbsteinschätzungen entfaltete: "Herr Hitler hat hervorragende staatsmännische Fähigkeiten, aber er ist trotzdem nicht der Oberst Beck." Diese und andere Äußerungen Becks wurden in Diplomatenkreisen kolportiert und ließen den "Chef der eigentlichen Ostpolitik", deren Fäden nach seinem Anspruch in Warschau zusammenzulaufen hatten, in den Augen anderer Diplomaten zu einer schrägen Figur werden.

Am Rande einer Konferenz in London verglich ihn der tschechoslowakische Gesandte wegen seiner merkwürdigen Grimassen "mit einem ehrlosen Ränkeschmied in einem schlechten Detektivfilm. Ich erwähne dies nur deswegen, weil vier verschiedene Delegierte zu mir kamen und mir spontan mitteilten, sie hätten den gleichen Eindruck wie ich." Bereits seitdem er als polnischer Militärattaché in Paris dem französischen Geheimdienstchef höchstpersönlich einen vertraulichen Bericht vom Schreibtisch gestohlen hatte, hatte Beck in den westlichen Hauptstädten persönlich mit Widerständen zu kämpfen, was in Berlin nicht unbemerkt blieb: "In keinem Lager habe ich mit Wärme oder Anerkennung von ihm sprechen hören", erinnerte sich Ernst v. Weizsäcker, der wohl auch deshalb die ganze polnische Außenpolitik der unmittelbaren Vorkriegszeit auf eine merkwürdige Art nebulös fand: "Selbst mit erklärten Gegnern pflegt man sonst irgendeinen festen Grund zu finden".

Im Winter 1932 wollte Beck der Außenminister des Angriffs auf Deutschland werden. Dafür handelte er schnell und entschieden. In den Monaten zuvor hatte es lange Debatten mit Paris gegeben, da die französische Regierung zwar zu der Zeit wenig für ihre östlichen Verbündeten tat, sich aber immer gern mit Vorbehalten aller Art zu Wort meldete, um ihre zentrale Rolle zu betonen. Aktuell gab es Streit über den bereits unterschriebenen, aber noch nicht ratifizierten polnischen Nichtangriffspakt mit der UdSSR, den man in Paris nur billigen wollte, wenn die UdSSR auch mit Rumänien einen solchen Vertrag schloß, wozu man aber in Rumänien wenig Neigung zeigte. Mit diesem Konflikt machte Beck Schluß. Die französische Regierung "will uns zurückhalten" und denke an einen Ausgleich mit Deutschland, hatte er an Piłsudski geschrieben. Überhaupt sei die deutsche Schwäche ein vorübergehendes Phänomen, das jetzt oder nie zu nutzen sei: "Wenn das nicht erkannt wird, werden nicht nur wir selbst, sondern auch unsere Kinder nicht Groß-Polen erleben."

Polen war Ende 1933 von Alliierten ausmanövriert

Wenig später ließ Beck einen weiteren Brief an Piłsudski folgen und schlug ein hartes Auftreten gegenüber Rumänien vor, um eine Entscheidung zu erzwingen. Kaum im Amt, stellte er dann in Bukarest die kategorische Frage "Ja oder Nein". Als eine verbindliche Antwort ausblieb, wurde der Nichtangriffspakt am 27. November ratifiziert. Damit schien die polnisch-sowjetische Versöhnung für den Moment definitiv besiegelt. Noch hatte sich nicht herumgesprochen, was von sowjetischen Nichtangriffspakten zu halten war.

Der Weg nach Deutschland stand offen - falls die Westmächte so reagierten wie gewünscht und in dem neuen polnischen Selbstbewußtsein nicht die Aktionen eines machtlosen Querulanten, sondern die eines wertvollen Verbündeten sahen. Um einen solchen Verbündeten müßte man dann kämpfen, so das Kalkül in Warschau, gegebenenfalls indem man ihm ein weiteres Stück deutschen Staatsgebiets zugestand. Um in Paris die Einsicht: "Wir können auch anders" zu fördern, warf Piłsudski bald darauf die französische Militärmission unter möglichst unwürdigen Umständen aus dem Land und gewöhnte es sich kurzfristig an, für französische Diplomaten "verreist" zu sein. Dies folgte Becks neuer Maxime: "Es kann und muß eine selbständige polnische Politik geben. Nicht nur wir sind verpflichtet, mit den Interessen Frankreichs zu rechnen, auch Paris ist in nicht geringerem Maße verpflichtet, mit den Interessen Polens zu rechnen."

Zeitgleich ging Beck ebenfalls entlang der gegenüber Piłsudski entworfenen Linie gegen Deutschland an jenem bekannt heiklen Punkt auf Konfrontationskurs: "Der Moment zeitweiliger Schwäche Deutschlands darf von uns nicht versäumt werden. Der Polnisch-Danziger Konflikt muß eine scharfe Form erhalten." Er begann um die Jahreswende 1932/33 einigen Streit in Danzig, indem er illegale Truppenverstärkungen auf der polnisch kontrollierten Westerplatte vor der Einfahrt zum Danziger Hafen anordnete. Am Ende blieb diese Taktik für dieses Mal erfolglos. Die Westmächte hielten sich zurück, und die wenige Wochen später ernannte nationalsozialistische Regierung gab einer polnischen Provokation keinerlei Resonanz, sondern zeigte sich sogar bereit, viele von den Weimarer Regierungen bisher abgelehnte Forderungen zu akzeptieren, wie etwa die Anerkennung der bestehenden deutsch-polnischen Grenzen. Das hatte Beck noch im Brief an Piłsudski für unmöglich erklärt.

Statt einen Angriff auf Deutschland riskieren zu können, sah sich Polen Ende des Jahres 1933 ausmanövriert und mußte schließlich wie mit der UdSSR nun auch mit Deutschland einen Nichtangriffspakt eingehen. Begleitet wurde dieses Manöver allerdings bis zuletzt von weiteren Anfragen in Paris wegen einer Militäraktion. "Wir waren gezwungen, mit den durch nichts gezügelten Nachbarn Verträge zu schließen", empörte sich Beck im nachhinein über die Situation.

"Schon morgen wird es zu spät sein, Deutschland die angestammten polnischen Gebiete zu entreissen, die man heute noch der Republik zurückbringen kann!" hatte er 1932 geschrieben. Dies war eine Einsicht, die er in den Folgejahren zurückstellte. Ungeachtet des deutsch-polnischen Nichtangriffspakts stand die polnische Armee auch weiter zum Militärschlag bereit, und Beck bot in Frankreich weiterhin einen Angriff an, wenn ihm dies günstig erschien, so etwa nach der Rheinlandbesetzung. Auch 1938 träumte er noch von dem maximalen Gewinn für Polen, der aus einer deutschen Katastrophe hervorgehen sollte, von "unserem Schlesien, unserem Ostpreußen und unserem Pommern". Für die meisten Ohren in der Berliner Republik von 2007 klingt dies so unwirklich wie je. Ein historischer Fakt ist es dennoch.

Foto: Frankreichs Ministerpräsident Camille Chautemps mit polnischem Außenminister Jozef Beck, Marineminister Cesar Campinchi, Finanzminister Leon Blum und Außenminister Yvon Delbos (von links), Paris 1937: Vertraulichen Bericht vom Schreibtisch gestohlen dann kalter Kaffee. Letztlich scheitert Aly am Problem der Synthese, er gewichtet alles gleich."


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