© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/07 02. Februar 2007

Auf der Suche nach Fuhrs Märchenland
Mißtrauen ist angezeigt: Sechs Autoren lassen sich politikblind über Patriotismus und Weltbürgertum aus
Doris Neujahr

Was bleibt vom Vergnügen der Fußball-WM, als Deutschland - laut Sönke Wortmann - ein kollektives Sommermärchen war? Dieser Frage geht die Beilage Aus Politik und Zeitgeschichte der Wochenzeitung Das Parlament (1-2/ 2007) nach. Sechs Journalisten und Politikwissenschaftler legen zum Thema "Patriotismus" ihre Meinung dar. Der prägnanteste und repräsentativste Beitrag, "Was ist des deutschen Vaterlands?", stammt von Eckhard Fuhr. Die Kritik daran schließt die an den anderen mit ein. Der Feuilleton-Chef der Welt meint, im Spiegel der WM "das Bild einer erneuerten Nation" erblickt zu haben, in deren kultureller und politischer Sphäre "Universalismus und nationales Geschichtsbewußtsein" bzw. "Verfassungspatriotismus und Geschichtsgefühl" verschmolzen seien. Wie kommt er zu diesem optimistischen Schluß? Und was meint er überhaupt?

Fuhr sieht in der gelösten Stimmung den Ausdruck einer längerfristigen Entwicklung, die man, wenn das Wort weniger abgedroschen wäre, Normalisierung nennen würde. Mit der deutschen Wiedervereinigung 1990 seien die "nationalen und postnationalen Sonderwege" Geschichte geworden, Kultur, Geisteswelt und Politik vollzögen diesen Qualitätssprung allmählich nach. Die Resonanz des "Krebsgangs" von Günter Grass und Jörg Friedrichs "Brand" hätte gezeigt, daß Deutsche als "Täter und Opfer zusammen gedacht werden können", Filme wie "Der Untergang", "Das Wunder von Bern" oder "Good Bye, Lenin" bezeugten eine neue Empathie mit der eigenen Geschichte.

Allmählich ging die Trauer um die Nation verloren

Ein anderes positives Zeichen sieht er in der Teilnahme des damaligen Bundeskanzlers Schröder an den "Jubliäumsfeierlichkeiten der Alliierten zum Sieg über Hitlerdeutschland" 2005. Außerdem skizziert er eine kurze Geschichte des Verfassungspatriotismus. Für Dolf Sternberger, der den Begriff geprägt hatte, war darin der Schmerz um die Teilung der Nation eingeschlossen. Da es im Kalten Krieg unmöglich war, den demokratischen Verfassungsstaat auf ganz Deutschland auszudehnen, der Verzicht auf ihn als Preis für die Einheit aber auch nicht in Frage kam, war der Verfassungspatriotismus der angemessene Ausdruck der Vaterlandsliebe.

Doch allmählich ging die Geschichtstrauer verloren. Jürgen Habermas deutete den Begriff völlig neu, indem er den Untergang des deutschen Nationalstaats als Verheißung und "den Zivilisationsbruch von Auschwitz" als die negative Quelle einer "postnationalen" und "postkonventionellen Identität" sowie einer "universalistischen Wertorientierung" postulierte. Diese Deutung wurde zum "vorherrschenden intellektuellen Stilelement" der Bundesrepublik.

Inzwischen, so Fuhr, habe ein radikaler Paradigmenwechsel stattgefunden. Am schärfsten sieht er ihn durch die Teilnahme Deutschlands am Kosovo-Krieg markiert, die die militärische Enthaltsamkeit als ein Kernstück bundesdeutscher Nachkriegsräson beendete. "Universalistische Prinzipien hatten sich jetzt unter den Bedingungen wiedererlangter nationaler Souveränität zu bewähren." Konkret galt es, die "ethnischen Säuberungen" im Kosovo zu beenden. An diesem Punkt sei ein dialektischer Umschlag erfolgt: "Der Universalismus führte in äußerster Folgerichtigkeit der Praxis in ebenjene geschichtlichen Räume, die heute noch aufgeladen sind mit den Erinnerungen an deutsche Verbrechen. (...) Just in dem Moment, in dem die Deutschen den langen Weg nach Westen hinter sich haben, finden sie sich mitten in der deutschen Geschichte wieder." Die Deutschen hätten jetzt die Chance, eine nationale Identität zu entwickeln, die sie zu "selbstbewußten Europäern und Weltbürgern macht". Es ist ein wahres Märchenland, das Fuhr hier zeichnet. Doch wo ist es zu finden?

Man kann sich nur wundern über sein moralisierendes Vokabular und den politikfernen Ansatz. Wenn politische Entschlüsse mit "universalistischen Prinzipien" begründet oder unmittelbar aus ihnen hergeleitet werden, ist Mißtrauen angesagt. Wer sie so naiv beim Wort nimmt wie heute die Deutschen, könnte sich leicht als genasführtes Werkzeug ganz anderer Prinzipien bzw. Machtinteressen wiederfinden.

Gerade im Fall des Kosovo-Krieges ist die Lage unklar. Emotionale Fernsehbilder und ein falscher "Hufeisenplan", präsentiert von einem verwirrten Bundesverteidigungsminister, hielten zur Begründung her. Eine politische Strategie, eine Vorstellung von der Zukunft des Kosovo, die die deutschen Militärs vor Ort seither immer wieder anmahnten, gab und gibt es nicht. Heute ist er tatsächlich ethnisch gesäubert - von den orthodoxen Serben nämlich, und ein muslimische Halbstaat hat sich auf dem Balkan konstituiert. Wer weiß, wofür sich das noch als ein Lehrstück erweist - und in wessen Geschichte sich Deutschland tatsächlich befindet.

Noch aus einem anderen Grund taugt der Kriegsbeitrag im Kosovo nicht als Beleg "nationaler Souveränität". Fuhr interpretiert ihn - die Debattenlage widerspiegelnd - als eine Art Wiedergutmachung spezifischer deutscher Verbrechen im Zweiten Weltkrieg und als einen Beweis der Läuterung, durch die Deutschland der äußeren Souveränität die innere hinzufüge. Hier zeigt sich wieder einmal, zu welch fatalen Schlußfolgerungen man kommt, weil man sich in Detailfragen der Geschichte schlecht auskennt. Unbestritten hat es furchtbare Kriegsverbrechen gegeben, aber der deutsche Einmarsch 1941 in Jugoslawien war nicht aus purer Expansionslust erfolgt, sondern weil die West-Alliierten und die Sowjetunion sehr erfolgreich daran arbeiteten, Jugoslawien zu einem Stützpunkt zu machen, von dem aus sich bequem die Ölzufuhr ins Reich abschneiden und Deutschland bombardieren ließ. Die Eskalation auf dem Balkan bis hin zu Kriegsverbrechen hatte also mehrere Beteiligte.

Fuhr nimmt Habermas als politischen Theoretiker ernst

Natürlich fügen diese Fakten sich nicht in das Geschichtsbild ein, das den Deutschen verordnet und von ihnen verinnerlicht wurde. Bei dem von Fuhr gelobten Auftritt des Kanzlers bei den Jubiläumsfeierlichkeiten der Alliierten 2005 hatte Schröder gesagt, der alliierte Sieg sei keiner über, sondern für Deutschland gewesen - ein historischer Blödsinn, der die geschichtliche Faktizität mit den politischen und psychologischen Bedürfnissen der Gegenwart in Übereinstimmung bringen sollte. Man könnte glatt darauf kommen, daß es gar keinen dialektischen Umschlag gegeben hat und die Teilnahme am Kosovo-Krieg nur bewiesen hat, daß die Deutschen durch ihr beschränktes Geschichtsbild erpreßbar und damit Besiegte geblieben sind - bis heute!

Weil das aber nicht wahr sein darf, nimmt Fuhr - bei aller Kritik - die Habermassche Begrifflichkeit als etwas ernst, was sie bestimmt nicht ist: als politische Theorie, die der geschichtlichen Lage auf den Grund zu gehen versucht. Es handelt sich aber eher um ein neurotisches Gedankengebäude, um den Versuch einer gewaltsamen Rationalisierung. Habermas wollte mit dem Zustand des Landes geistig, moralisch und ideologisch fertigwerden, ohne sich mit den tatsächlichen Voraussetzungen auseinandersetzen zu müssen. Es handelt sich um eine typische Abwehrstrategie gegenüber dem bekannten Konflikt zwischen Befriedigung und Verzicht. Sie läuft in der Regel auf einen Kompromiß hinaus, der einerseits Selbstachtung gestattet, andererseits eine zugleich entstellte Verwirklichung des Wunschziels einräumt. Die Entstellung lag im Verzicht auf die deutsche Einheit und Souveränität, moralisch gerechtfertigt wurde dieser mit "den Lehren aus der deutschen Geschichte".

Kein Wort über die Niederlage von 1945

Was sind die schmerzhaften Voraussetzungen, denen das Gros der Intellektuellen zu entrinnen trachtet? Das "letzte Definitum deutscher Lage", schrieb der 2004 verstorbene Politikwissenschaftler Hans-Joachim Arndt, war "die Niederlage von 1945" und das "demütigendste Ausgeliefertsein des politischen Subjektes 'Deutschland' (...) In der deutschen Lage nach 1945 versperrt jede Systemtheorie oder Systemanalyse, ob demokratisch-liberal-verfassungsstaatlich oder demokratisch-politökonomisch-marxistisch oder klassisch-staatlich betrieben, den unbefangenen Blick auf die politische Wirklichkeit, als daß sie ihn freigibt."

Der Essayist Norbert Seitz, der in derselben Parlament-Ausgabe über die "Nachhaltigkeit eines neuen Patriotismus" sinniert (und dabei Eckhard Fuhr zitiert - eine miserable Koordinierung, liebe Redaktion!), würde darin nur "Souveränitätsideologie" erblicken, wie sie von den "schneidigen Schreibern der JUNGEN FREIHEIT" vertreten wird. In Wahrheit - siehe Kosovo - geht es um den Kern des Politischen. Passend für Seitz und Fuhr noch ein weiterer Satz von Arndt: "Wir behaupten nun nicht, daß die alliierten Hauptsieger den Besiegten von 1945 mit ihren - je verschiedenen - geschichts- und lagefremden Systemansätzen gleichsam absichtsvoll aus propagandistischen oder edukativen Motiven überwanderten, Desinformazija übten, um den Besiegten politikblind werden zu lassen."

Ein Beitrag über Patriotismus, Identität und Normalität müßte sich vernünftigerweise die Frage vorlegen, ob unter die Niederlage ein Schlußstrich gezogen und damit die Chance für ein politisches Bewußtsein gewachsen ist, das Ausweichbewegungen à la Habermas nicht mehr nötig hat. Doch das Problem der Niederlage kommt weder bei Fuhr noch bei den anderen Autoren vor. Die Milliardenforderungen, die Deutschland gleich nach der Wiedervereinigung ins Haus flatterten - und beglichen wurden -, die Unmöglichkeit, der Geschichtstrauer über die verlorenen Ostgebiete einen Ausdruck zu geben, die periodischen Hysterieschübe und Schuldkomplexe, die von anderen als politischer Hebel benutzt werden: Das sind nur ein paar der Indizien, die sich zu einem ganz anderen Bild zusammenfügen, als es Eckhard Fuhr vorgaukelt. Was aber sollen uns Debattenbeiträge sagen, die sich zu den existentiellen Fragen Deutschlands gar nicht vorwagen?

Skulpturen von Pinocchio und Gepetto vor dem Pinocchiopark im italienischen Ort Collodi: Schon wieder verfahren!


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