© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 07/07 09. Februar 2007

Kronzeuge der organisierten Verantwortungslosigkeit
Ein Berliner Beamter offenbart Einblicke in die von Inkompetenz bis teilweise sogar krimineller Energie beherrschte Berliner Haushaltspolitik
Beo Bachter

Wer über viele Jahre in der Berliner Verwaltung unterschiedlichsten Politikern in finanziellen Dingen zugearbeitet hat, der verfügt über jenen Stoff, aus dem sich gelehrige Bücher machen lassen. Hans Willi Weinzen hat den bereits drei Büchern über die Berliner Finanzen, die in mehreren Auflagen erschienen sind, ein weiteres hinzugefügt, das indessen über die Berliner Problematik hinausgreift.

Zwar schildert der Autor auf amüsante Weise den Dilettantismus der Berliner Politiker in finanzwirtschaftlichen Dingen. Doch er will durch den historischen Vergleich der verschiedenen Rechtsgrundlagen für die öffentliche Haushaltswirtschaft etwas belegen: Neben dem unerklärten Ziel der Berliner Politiker, ihren politischen Lebenszyklus durch fremdfinanzierte Ausgaben zu verlängern, haben die politischen Akteure die Rechtsgrundlagen der Haushaltswirtschaft peu à peu so verändert, daß die Berliner Finanzpolitik für sich über Jahrzehnte die Autorität der Legalität in Anspruch nehmen bzw. unbemerkt die ihr entgegenstehenden Normen des Haushaltsrechts umgehen oder brechen konnte.

So beschreibt Weinzen, daß entgegen aller Ratio die Verlustabdeckungen für die Bankgesellschaft Berlin und die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) als Investitionen im Landeshaushalt ausgewiesen wurden, um so einerseits den Umfang der Investitionen schönzurechnen und andererseits den handfesten Vorteil einer höheren legalen Verschuldung zu erlangen. Auch das Verstecken von Schulden in sogenannten Sondervermögen zwecks Umgehung der verfassungsrechtlichen Schuldenbegrenzungsregeln wird von Weinzen in Berlin als auch bei Bund und Ländern aufs Korn genommen und mit einschlägigen Beispielen - so dem "Sondervermögen Förderfonds Sachsen-Anhalt" - belegt.

Besonders überzeugend sind neben den gelungenen historischen Aperçus die Schilderungen des Berliner Finanzgebarens. Man spürt förmlich, daß hier jemand schreibt, der noch sehr viel mehr zu sagen hätte, sich aber an den Beamtengrundsatz halten muß, der Zurückhaltung in das eigene Ressort betreffenden Angelegenheiten anmahnt.

Weinzen weist zu Recht darauf hin, daß die Solvenz Berlins von etwas lebt, was dem Land erst durch den Gesamtstaat Deutschland garantiert wird: Ohne die Garantie des Gesamtstaates, im Falle aller Fälle die Berliner Schulden auszulösen, wäre Berlin schon längst nicht mehr in der Lage, zu erträglichen Konditionen am Kapitalmarkt Anleihen aufzunehmen. Überraschend ist, daß Weinzen nicht danach fragt, was dieser Umstand der "Kreditfähigkeit durch die anderen" in der Vergangenheit ausgelöst hat. Die Erhöhung der Deckungskredite extra legem, die Aufnahme von 1,4 Milliarden Mark im Jahre 1995 zur angeblichen Finanzierung von Krankenhaus-Investitionen, die Nutzung der Krankenhausmilliarde durch die BVG für eigene Investitionen sind nur Ausdruck eines Finanzgebarens, das sich vor Insolvenz sicher weiß.

Bereits 1992/93 waren die Berliner Wasserbetriebe und die Berliner Stadtreinigungsbetriebe (BSR) - damals noch Eigenbetriebe - ermächtigt worden, zur Deckung ihres Finanzbedarfs 1,2 Milliarden Mark aufzunehmen. Im Jahre 2000 schloß der Senat mit der zwischenzeitlich zur Anstalt öffentlichen Rechts gewordenen BSR einen Vertrag. Hiernach erhielt der Senat von der BSR etwa 800 Millionen Mark - weitgehend über Kredit bei der Bankgesellschaft Berlin finanziert - im Gegenzug für die Garantie einer Beibehaltung des öffentlichen Monopolbetriebs. Weinzen schüttelt hierzu den Kopf und kann nicht fassen, warum der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin dies nicht als eine verdeckte Kreditaufnahme gewürdigt hat.

Doch Weinzen hat noch Spannenderes zu berichten: den systematischen Rückgriff auf Deckungskredite des vergangenen Jahres, den ebenso regelmäßigen Vorgriff auf Deckungskredite des kommenden Jahres und schließlich die mißbräuchliche Ausweitung des Kassenkredites. Sein Anschwellen auf bis zu acht Prozent des gesamten Haushaltsvolumens belegt die Nutzung dieses Ausgleichsinstrumentes für Liquiditätsschwankungen als dauernde Fremdmittelfinanzierung.

Schließlich kommt Weinzen auf das haarige Thema öffentlicher Bürgschaften zu sprechen. Was mit der Bürgschaft an den Bauunternehmer Garski 1981 begann, setzte sich in vielfältiger Form und meist sehr unspektakulär fort. Dies gilt auch für die Politik der Rückbürgschaften. Gänzlich unbemerkt von der Öffentlichkeit bürgt das Land seit dem Haushaltsgesetz 2000 für die Flughafengesellschaft mittlerweile mit stattlichen 335 Millionen Euro. Bis zum Jahresende 2002 hat Weinzen Bürgschaftsverpflichtungen von bis 45,5 Milliarden Euro errechnet, und zwar mit zunehmendem Trend zu Bürgschaftsausfällen.

Die garantierechtliche Risikoabschirmung der Bankgesellschaft Berlin hätte Weinzen die prinzipielle Problematik staatlicher Bürgschaften erkennen lassen müssen. Sie sind der Höhe nach unbegrenzt zulässig, wenn sie nur als Gesetz erlassen werden. Weinzens Vorschlag, die Bürgschaftsrisiken in die Haushaltseinzelpläne zu verlagern, wird diesem Spannungsverhältnis von haushaltsrechtlicher Legalität und finanzwirtschaftlicher Legitimität nicht gerecht. Doch ist dies nicht die einzige Kritik, die sich an Weinzens Werk formulieren läßt. Auffällig ist, daß er einerseits die vielfachen Verstöße oder willkürlichen Interpretationen des Haushaltsrechts durch den Senat treffend beschreibt, die hanebüchene Kritik des Rechnungshofes von Berlin genüßlich zitiert und dennoch zu glauben scheint, daß Berlin eine Teilentschuldung verdient hätte. Hat er nicht verstanden, daß die sanktionslose Mißwirtschaft in Berlin auf der Gewißheit beruhte: Pleite können wir nicht gehen!

Höchst unverständlich ist, daß das Bundesverfassungsgericht das Werk von Weinzen scheinbar keines Blickes gewürdigt hat. Es liest sich wie der Bericht aus einer Irrenanstalt mit unbeschränkter Haftung. Weinzen wäre ein exzellenter Kronzeuge für die organisierte Verantwortungslosigkeit in Berlin gewesen. Aber das Bundesverfassungsgericht wollte wahrscheinlich keinen Augenzeugenbericht, der es erschwert hätte, Berlin die finanzwirtschaftliche Autonomie zu belassen, statt das Land endlich unter die Kuratel eines Staatskommissars zu stellen. 

Hans Willi Weinzen: Berlin und seine Schulden. Ein Land auf der Flucht vor der Wirklichkeit? 2. Aufl. . Berliner Wissenschaftsverlag, Berlin 2006, broschiert, 173 Seiten, 19,80 Euro


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen