© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 07/07 09. Februar 2007

Wirtschaft ist immer politisch
von Wilhelm Hankel

Für die einen bringt die Globalisierung die beste aller Marktwirtschaften hervor - dirigiert allein von Adam Smiths "unsichtbarer Hand", die das Wunder vollbringt, egoistische Geldgier in soziales Wohlverhalten zu verwandeln. Erst kürzlich entdeckte die Wirtschaftswoche den lebenden Beweis für dieses Wunder in Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermanns bescheidenen Jahreseinkünften, ohne freilich den Beitrag seiner Wertschöpfung zum Allgemeinwohl genau beziffern zu können.

Für die nach dem Zerfall des Kommunismus sprachlos gewordene Linke bestätigt die Globalisierung dagegen Karl Marx' zu Unrecht für widerlegt gehaltenen Gesetze der Selbstzerstörung des Kapitalismus. Die fortschreitende Polarisierung zwischen Reich und Arm, Kapital und Arbeit in den westlichen Wohlstandsgesellschaften und, bedrückender noch, den zerfallenden Staaten der Dritten Welt lasse ihm auf Dauer nur die Wahl, woran er sterben wolle: am sozialen Aufstand oder dem finanziellen Kollaps. Denn den nächsten "Schwarzen Freitag", er liegt schon in der Luft, werde er nicht überleben. Offen für das Ende des Kapitalismus sei lediglich das Wie und Wann. Programmiert sei es so oder so.

Zu Beginn des neuen Jahres - am 15. Januar - verstarb in Kalifornien, so still und zurückgezogen, wie er gelebt, geforscht und gelehrt hatte, der Mann, der es als seine Lebensaufgabe angesehen hatte, dem rechten wie linken ökonomischen Determinismus die wissenschaftliche Grundlage zu entziehen. Richard Musgrave, in Deutschland geboren (1910), Emigrant der ersten Stunde (1933), wenn auch durch den Glücksumstand eines Freisemesters an der Harvard-Universität, wurde im Laufe seiner langen und glanzvollen akademischen Karriere an den US-amerikanischen Spitzenuniversitäten Johns Hopkins, Princeton, Harvard und Berkeley zum führenden Repräsentanten einer Staatswirtschaftslehre, wie sie atypischer für sein neues Heimatland, die USA, nicht sein konnte.

Eine Wirtschaft ohne starken Staat überlebt genausowenig wie ein Staat ohne starke Wirtschaft. Letzteres nahm man ihm ab, denn der Kommunismus hatte dafür den Experimentalbeweis geliefert. Der Heldenmut der Sowjet-Soldaten hätte nicht ausgereicht, den Zweiten Weltkrieg zu gewinnen, wenn nicht die US-Kriegswirtschaft der Sowjet­union das Arsenal ihrer Ressourcen zur Verfügung gestellt hätte. Den anschließenden Rüstungswettlauf mußte sie verlieren, weil ihre Wirtschaft mit der westlichen nicht Schritt halten konnte.

Doch das war für Musgrave kein Beweis für die Überlegenheit des westlichen Kapitalismus gegenüber dem Kommunismus. Die USA verfügten zwar über eine starke Wirtschaft, beharrten aber aus Prinzip auf einem schwachen Staat. Musgrave deckte gnadenlos die Achillesferse der US-Gesellschaft auf: das Fehlen eines fairen Schiedsrichters im wirtschaftlichen Überlebenskampf der schwachen und unterprivilegierten have-nots gegen die zu Macht und Einfluß gelangten haves der US-Gesellschaft. Die USA mochten konstitutionell ein Rechtsstaat sein, wenn auch ein anderer als seine Vorbilder im alten Europa. Der Sozialstaat europäischer Prägung war in den USA nie angekommen, weder der paternalistische à la Bismarck noch der britische der Fabian Society.

Der Staat ist der Garant dafür, daß die in der Verfassung niedergelegten hehren Prinzipien der Freiheit und der Menschenwürde, der Bürgerrechte und des sozialen Schutzes auch in der rauhen Wirklichkeit des wirtschaftlichen Alltags Bestand haben.

Der von Nazis und Austrofaschisten ausgelöste Exodus der wirtschaftswissenschaftlichen Elite aus dem deutschen Sprachraum betraf zwar gleichermaßen die Exponenten des liberalen wie sozialistischen Lagers, doch die rechte "Wiener Schule" kam besser an und faßte im öffentlichen Dialog rascher Fuß als die linke, antikapitalistische Aufklärung. Selbst eine Weltautorität wie Joseph Schumpeter tat sich schwer im Harvarder Universitätsbetrieb der dreißiger Jahre; er kam zwar aus der Wiener Schule, doch er vertrat verdächtige sozialistische Ideen und Ansichten. Diese waren und blieben trotz der Keynesschen Revolution an den ökonomischen Fakultäten, den Erfolgen von Roosevelts "New Deal" und der Reputation der New Yorker "New School" als Heimstatt expatriierter linker Sozialwissenschaftler suspekt. In den USA wollte man weder Sozialismus noch Wohlfahrtsstaat praktizieren, und eine Prise von beiden galt als gefährlich. Ein bißchen Systemkorrektur gebe es sowenig wie ein bißchen Schwangerschaft. Einmal auf die "Straße zur Knechtschaft" (Friedrich A. Hayek) geraten, gebe es weder Halten noch Umkehr.

Musgrave machte zeitlebens Front gegen den marktwirtschaftlichen Rigorismus, der an den US-Hoch- und Managerschulen gelehrt, in der Wirtschaftspresse als Evangelium verbreitet und im amtlichen Washington, gleich welche der beiden Groß-Parteien regierte, als Staatsdoktrin verkündet wurde, lange bevor er als Neo- oder Vulgärliberalismus den Atlantik überquerte und das sich integrierende Europa infizierte. Für diese "Inflexibilität" überging man Musgrave permanent bei der Nominierung des 1968 gestifteten Nobelpreises für Ökonomie.

Verdient hatte er ihn allemal. Bereits 1959 hatte er sein Lehrbuch "Public Finance" publiziert, dessen grundlegende Systematik der Staatsaufgaben er in zahlreichen Artikeln vorab entwickelt und zur Diskussion gestellt hatte. Es brachte die Lehren der alten (europäischen) Staatswirtschaftslehre und der neuen angelsächsisch-keynesianischen zur Synthese. Die Aufgaben des modernen Staates lassen sich in der Trias von Allokation (Bereitstellung öffentlicher Güter), Distribution (Herstellung der Einkommensgerechtigkeit) und der Verantwortung für makroökonomische Stabilität (durch aktive Konjunkturpolitik und Krisenbekämpfung) zusammenfassen. Der Staat ist mehr als ein Serviceunternehmen, das Armee und Polizei bezahlt und dafür sorgt, daß die Mülleimer pünktlich geleert werden. Der Staat ist der Garant dafür, daß die in der Verfassung niedergelegten hehren Prinzipien der Freiheit und der Menschenwürde, der Bürgerrechte und des sozialen Schutzes auch in der rauhen Wirklichkeit des wirtschaftlichen Alltags Bestand haben. Deutsche Finanzminister, die wie die Kassenwarte eines Sportvereins das Höchste ihrer Kunst und staatspolitischen Verantwortung im bilanziellen Ausgleich von Einnahmen und Ausgaben ihres Haushalts sehen, hätten - und haben - Musgrave nur ein verständnisloses Kopfschütteln abgenötigt. Soviel Ignoranz im dritten Jahrhundert finanzpolitischer Wissenschaft und Aufklärung!

Richard Musgrave, der Deutschland als junger Mann verlassen mußte, blieb zeitlebens ein vom deutschen Katheder-Sozialismus wie der englischen welfare economics geprägter Ökonom. Ökonomie kann niemals unpolitisch sein, der Ökonom selber sich niemals seiner gesellschaftlichen Aufgabe und Verantwortung entziehen; und keine Gesellschaft ist gerecht, wenn nicht der Staat und seine Gesetze dafür sorgen. Der Markt mag noch so viele Wunder vollbringen, eines kann er nicht: soziale Gerechtigkeit verbürgen, denn die läßt sich mit Geld nicht kaufen. Nur ein starker Rechts- und Sozialstaat kann der Effizienz der Märkte den Wolfsgeruch einer inhumanen und über Leichen gehenden Kampfgesellschaft nehmen.

Musgrave war kein Sonntagsprediger für Ethik in Managerseminaren. Er zeigte nüchtern, und ganz im Sinne seiner britischen Vorbilder: Arthur Cecil Pigou und John Maynard Keynes, daß keine Marktwirtschaft ohne die ordnende wie schützende Hand des Staates bestehen und prosperieren kann. Nicht Adam Smiths "unsichtbare", sondern des Staates "sichtbare" Hand bewahrt sie vor Wildwuchs und Zusammenbruch. Darin war und blieb er Keynesianer: Das Gefühl für soziale Gerechtigkeit und Verantwortung mag auf Anstand, Moral oder Menschlichkeit beruhen. Für die Marktwirtschaft ist sie ein unverzichtbares, konstitutives Element - denn ohne stabile Masseneinkommen und eine von Massenarbeitslosigkeit, Krisen und Konjunkturlaunen freigehaltene Gesamtnachfrage kann das in ihr angelegte Produktivitätspotential gar nicht voll ausgeschöpft werden. Nur der sozial gezähmten Marktwirtschaft verdankt die Gesellschaft den leidlich gerecht verteilten Wohlstand für alle.

Musgrave definierte (zusammen mit seinem Freund und Weggenossen Paul A. Samuelson) den Staat als Anbieter sowohl "öffentlicher" wie "meritorischer" Güter. Erstere müssen, weil sie für alle verfügbar sollen, jedoch nur die wenigsten sie sich leisten können, staatlich finanziert werden. Dazu gehört die Grundausstattung der Gesellschaft mit sozialer Infrastruktur wie Kindergärten, Schulen, Krankenhäusern, Verkehrsmitteln usw. Meritorische Güter wiederum sind jene, für die Staat als Erzieher und Kulturträger durch sein Angebot und seinen Anreiz die Nachfrage erst noch schaffen muß, wie für den Besuch von Theatern, Museen, Volkshochschulen usw.

"Public Finance", Musgraves Standard-Lehrbuch und wissenschaftliches Testament, liest sich wie die Anleitung zu einer Politik von Ludwig Erhards Sozialer Marktwirtschaft. Es könnte kapitelweise zur Begründung des von ihm zusammen mit Karl Schiller verfaßten "Wachstums- und Stabilitätsgesetzes der deutschen Wirtschaft" aus dem Jahre 1967 herangezogen werden. Ist es in Zeiten der Globalisierung und der europäischen Integration, einer auf den EU-Raum zugespitzten Sonderform der Globalisierung, überholt?

Genau das hat Richard Musgrave leidenschaftlich bestritten. High-Tech, PC, Mausklick und SMS mögen das Leben der Menschen noch so erleichtern und die Transaktions- und Kommunikationskosten der Wirtschaft noch so verbilligen - die Anforderungen an eine gerechte, humane und soziale Gesellschaft werden dadurch nicht aufgehoben. Nicht die Gesellschaft hat sich dem Diktat der Märkte, der Technik und der von beiden geschaffenen Möglichkeiten eines komfortableren Lebens zu unterwerfen. Diese Art von Fortschritt gibt es seit der Erfindung der Axt. Das komfortable Leben hebt weder die Gesetze der Ethik noch die Regeln des Zusammenlebens der Menschen in der Gesellschaft auf, auch wenn das manchen der im Wohlstand Lebenden schwerfällt zu begreifen. Was immer Markt und Technik an Fortschritt hergeben - es muß der Gesellschaft dienen und notfalls ihr und ihrer Verfassung angepaßt werden. Darüber hat der Staat mit seinen Gesetzen zu wachen. Dieses ist und bleibt seine zeitlose Aufgabe.

Die Währungspolitik darf dem Staat bei der Verfolgung seiner
konstitutionellen
Aufgaben und Ziele, seiner Haushalts- und Finanzpolitik, nicht in den Arm fallen. Genau das aber tut sie durch die Maastricht-Verträge und die Europäische Währungsunion.

Diese Aufgabe ist unvereinbar mit der Übertragung staatlichen Kompetenzen an einen Nicht-Staat in Europa, an eine bar demokratischer Legitimation agierende, kafkaesk ausufernde Bürokratie, ein Scheinparlament und eine entstaatlichte Währungsbehörde, die Europäische Zentralbank (EZB), die die nationale Finanzhoheit, obwohl parlamentarisch verankert, aushebelt. Musgrave hat sich zu der in der EU vollzogenen Trennung der überstaatlichen Währungs- von der nationalstaatlichen Finanzpolitik nicht geäußert, wohl aber zum Verhältnis beider zueinander. Die Währungspolitik darf dem Staat bei der Verfolgung seiner konstitutionellen Aufgaben und Ziele, seiner Haushalts- und Finanzpolitik nicht in den Arm fallen. Genau das aber tut sie im Europa der Maastricht-Verträge und der Europäischen Währungsunion (EWU). Die staatliche Finanzpolitik wird (ohne Begründung!) zum Gefahrenherd der Euro-Stabilität erklärt und mit dieser (falschen) Begründung zum Erfüllungsgehilfen einer ihrer nationalen Verantwortung entkleideten Währungspolitik degradiert - das ist der Sinn der den Staatskredit verteufelnden Haushaltskriterien der EU-Verträge und der ihn verbietenden Bestimmungen des EZB-Statuts. Daß die staatliche Defizitfinanzierung durch die Hintertür der Offen-Markt-Politik dieser Institution zugunsten wenig disziplinierter Mittelmeerländer wieder hereingeschmuggelt wird, steht auf einem anderen Blatt.

Für Musgrave bildeten die "beiden Hausmädchen" (James Tobin) des staatlichen Service im Dienst des Gemeinwohls, die Geld- und Finanzpolitik, stets eine Einheit, ein zum selben Dienst verpflichtetes Paar. Die Aufkündigung dieses Verbundes durch EU, EWU und EZB wird auch nicht dadurch gerechtfertigt, daß sie sich deutscher Uneinsicht und Pression verdankt: dem auf deutsche Initiative nachgeschobenen Euro-Wachstums- und Stabilitätspakt. Doch daß der Euro zunehmend zum "Teuro" eskaliert, ist nicht den Fiskalsündern unter den Euro-Ländern, sondern den Inflationssündern zuzuschreiben, also am allerwenigsten dem Musterknaben in Sachen Kaufkraftstabilität, nämlich Deutschland. Weil in der Euro-Zone mit dem Währungswettbewerb auch die nationale Verantwortung für Wechselkurse und Leistungsbilanzen abgeschafft worden ist - sie geht in der gemeinsamen Zahlungsbilanz der Euro-Zone unter -, läßt sich nunmehr in jenen (meist mittelmeerischen) Euro-Ländern, in denen früher Jahr für Jahr die Währung abgewertet werden mußte, unbeschwert und fortgesetzt inflationieren.

Obwohl die EZB gegen diese hausgemachten Inflationstendenzen innerhalb der Euro-Zone machtlos ist und sie mit schwachsinnigen Argumenten bagatellisiert (des sogenannten Balassa-Samuelson-Effekts, der für rohstofforientierte Entwicklungsländer gilt und nicht für solche, die ihren Binnenmarkt ausweiten), hält sie unbeirrt am Fetisch einer gesamteuropäischen Währungsstabilität fest. Diesem Fetisch werden bei schlechter Konjunktur bis zu 20 Millionen Arbeitslose in Europa geopfert und weiteren gut 100 Millionen Noch-Beschäftigten, die um ihren Job fürchten müssen, wird die Nachtruhe geraubt.

Richard Musgrave hat diese Perversion "seiner" rationalen, demokratisch verfaßten und sozialstaatlich motivierten Finanzpolitik nur aus der Ferne wahrgenommen. Hätte er sie in seiner deutschen Heimat erlebt - er wäre jetzt ausgewandert. Mit ihm starb der letzte große Ökonom, für den die Staats- und Wirtschaftswissenschaften noch eine Einheit bildeten, für den die Sozialmoral der Gesellschaft noch bindend für das Erfolgsstreben der Unternehmer und Manager war und der als parteiloser "Sozialdemokrat" keinem anderen Imperativ verpflichtet war als dem der sozialen Verantwortung. Seine Botschaft ist aktueller denn je.

 

Prof. Dr. Wilhelm Hankel war Direktor der Kreditanstalt für Wiederaufbau und Ministerialdirektor unter Wirtschaftsminister Karl Schiller (SPD). Seit 1967 lehrt er Währungspolitik an der Universität Frankfurt am Main.


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