© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/07 16. März 2007

Am nächsten Morgen wurde ich verhaftet
Marxist aus unerkennbaren Gründen: Begegnungen mit Hans Mayer / Zum hundertsten Geburtstag
Jörg Bernhard Bilke

Es war im Sommer 1958, ich studierte damals im ersten Semester an der Freien Universität in West-Berlin, als mich ein Studienrat aus Westdeutschland bat, ich möge ihm doch in Ost-Berlin das Buch "Deutsche Literatur und Weltliteratur. Reden und Aufsätze" (1957) des Leipziger Germanistikprofessors Hans Mayer besorgen.

Wer war Hans Mayer? Diesen Namen hatte ich noch nie gehört, doch nichts war einfacher, als dieser Bitte nachzukommen: Man brauchte nur in der Wechselstube am Bahnhof Zoo 25 Westmark in 100 Ostmark umzutauschen, konnte dafür in den Ostberliner Buchhandlungen die von Paul Rilla edierte Lessing-Ausgabe in zehn Bänden kaufen und hatte noch immer genügend Geld übrig für das erbetene Buch.

Seit jenem Sommer las ich alle Schriften Hans Mayers, die ich in Ost-Berlin kaufen konnte, mit wachsender Neugier, beginnend mit der Leipziger Antrittsvorlesung "Goethe und Hegel" (20. Juli 1949) über die "Studien zur deutschen Literatur" (1953) bis zu den beiden Fassungen, einer pessimistischen und einer optimistischen, seines Buches "Georg Büchner und seine Zeit" (1946/60), das von der Leipziger Universität als Habilitationsschrift anerkannt worden war.

Denn Hans Mayer, der im Winter 1925, gerade 17 Jahre alt, am Kölner Schiller-Gymnasium das Abitur ablegte, hatte nie Literaturwissenschaft studiert, sondern Rechts- und Staatswissenschaft, worin er auch 1930 mit einer Arbeit über "Die Krise der deutschen Staatslehre" den Doktortitel erwarb. Drei Jahre später ging er, als Jude und Marxist vom Berufsverbot betroffen, ins Exil nach Frankreich, 1934 von dort nach Genf, von wo er 1945 als Journalist nach Frankfurt am Main in die amerikanische Zone kam. Dort arbeitete er als Redakteur fürs Radio.

Ein heimgekehrter Emigrant also, den es - wie andere deutsche Exilschriftsteller auch, Anna Seghers beispielsweise, Arnold Zweig und Bertolt Brecht - ins kommunistische Deutschland zog. Die 1409 gegründete Universität in Leipzig, die seit 1953 den Namen von Karl Marx tragen durfte, bot ihm, wie vorher schon seinem väterlichen Freund Ernst Bloch, eine Professur an. Im zweiten Band seiner Autobiographie "Deutscher auf Widerruf" (1984) kann man nachlesen, welche Umstände ihn nach Leipzig gebracht hatten und wie er dort empfangen worden war.

Mich, der ich seine glänzende Fachprosa und seine klare Gedankenführung seit Jahren bewunderte, empfing er am 27. Juli 1961 in Frankfurt am Main, als ich bei seinem Freund und Kollegen Horst Rüdiger in Mainz Komparatistik studierte.

Nach einleitenden Worten verwies er auf sein neues Buch "Bertolt Brecht und die Tradition" (1961), dessen eigenwillige Deutung der politischen Ansichten des Dichters ("Luxemburgismus") die Ost-Berliner Parteigermanistik stark beunruhigte, und machte auf einen druckfrischen Aufsatz "Geschichtsvision und Wissenschaft" seines amerikanischen Kollegen Peter Demetz aufmerksam, worin heftig daran gezweifelt wurde, ob Hans Mayer überhaupt als Marxist anzusehen sei.

Sechs Wochen später schon, in Berlin war inzwischen die Mauer gebaut worden, besuchte ich ihn in seiner Leipziger Wohnung, am nächsten Morgen, 9. September, wurde ich auf dem Karl-Marx-Platz verhaftet.

Zwei Jahre hörte ich dann nichts mehr von Hans Mayer, bis zu jenem denkwürdigen 3. September 1963, als ich im Zuchthaus Waldheim erfuhr, er sei "republikflüchtig" geworden.

Warum war er überhaupt 1948 nach Leipzig gegangen? Lag hier eine ungute Verwechslung von Karl Marx mit Walter Ulbricht vor oder nur die eitle Sucht nach dem Professorentitel? In seinem noch heute lesenswerten Buch "Ärgernisse" (1961) schrieb der im Sommer 1957 nach West-Berlin geflohene Gerhard Zwerenz, wie Günter Zehm Leipziger Schüler Ernst Blochs, über Hans Mayer: "Ist Marxist aus unerkennbaren Gründen."

"Er zitierte aus meiner Dissertation"

Nach meinen Waldheimer Jahren begegneten wir uns häufiger: 1965 in Tübingen, wo er wohnte, bevor und nachdem er an der Universität Hannover lehrte (bis 1973), sowie 1967 in Stockholm, wo er Gastprofessor war. Einen halben Tag war ich damals von Göteborg in die schwedische Hauptstadt unterwegs, nur um zwei Stunden mit ihm sprechen zu können. In Madison-Wisconsin, USA, trafen wir uns 1971 und 1973 bei Jost Hermands Literaturtagungen, seitdem duzten wir uns.

Die letzten Begegnungen fanden 1983 statt, am 16. Oktober in Bonn und am 19. November in Mainz. In Bonn erzählte ich ihm, ich hätte einen Aufsatz geschrieben "Hans Mayer oder Marxismus als Gerücht", den wollte er aber nicht lesen; in Mainz hielt er die Trauerrede auf die in Ost-Berlin verstorbene Anna Seghers (1900-1983) und zitierte aus meiner Dissertation.

2001 im Alter von 94 Jahren in Tübingen verstorben, liegt Hans Mayer auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin begraben. Nun wäre es an der Zeit, seine Wirkungsgeschichte zu schreiben. 

Foto: Hans Mayer und Walter Höllerer (r.) diskutieren in einer ZDF-Sendung über Literatur (1969)

 

Aus Anlaß des hundertsten Geburtstages von Hans Mayer erscheint in den nächsten Tagen im Suhrkamp Verlag eine Sonderausgabe seines Opus magnum "Außenseiter". Außerdem: Hans Mayer: Der Fall Hans Mayer. Dokumente 1956-1963. Lehmstedt Verlag, Leipzig 2006 geb., 528 Seiten, 29,90 Euro; ders.: Briefe aus Leipzig 1948-1963. Lehmstedt Verlag, Leipzig 2006, geb., 630 Seiten, 29,90 Euro.

 

Dr. Jörg Bernhard Bilke, Jahrgang 1937, ist Literaturwissenschaftler. Von 1983 bis 2000 war er Chefredakteur der "Kulturpolitischen Korrespondenz" der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat in Bonn. Heute lebt er in Franken und arbeitet als freier Publizist.

 

Auf Widerruf

Unter dem Titel "Ein Deutscher auf Widerruf" lädt die Berliner Akademie der Künste aus Anlaß des hundertsten Geburtstags von Hans Mayer zu einer Lesung und Diskussion am 19. März u.a. mit Volker Braun, Christoph Hein und Christa Wolf in ihren Plenarsaal am Pariser Platz ein. Der Eintritt kostet 5 Euro, ermäßigt 4 Euro. Kartenreservierung unter Tel: 030 / 200 57 10 00.


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