© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 14/07 30. März 2007

Die Wähler benehmen sich wie Computerhacker
Frankreich I: Vier Präsidentschaftskandidaten haben Chancen auf die Stichwahl / Taktiker und Protestwähler für Bayrou
Alain de Benoist

Immer wieder bringen die französische Urnengänge Überraschungen. 2002 erreichte Jean-Marie Le Pen die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen. Beim Volksentscheid 2005 siegten die Gegner des EU-Verfassungsentwurfs. Nun hat Staatsoberhaupt Jacques Chirac wie erwartet bekanntgegeben, nicht für eine dritte Amtszeit zu kandidieren, und gleichzeitig angekündigt, für seinen UMP-Parteichef - und Widersacher - Nicolas Sarkozy stimmen zu wollen.

Die Überraschung bestand indes in dem erstaunlichen Aufstieg des Zentristen François Bayrou. Der Ex-Bildungsminister (1993-1997) und Chef der christliberalen UDF liegt in Umfragen fast gleichauf mit Sarkozy und der Sozialistin Ségolène Royal (22 bis 26 Prozent). Zu Beginn seines Wahlkampfes wollten - wie 2002 - nur sechs Prozent ihre Stimme für ihn abgeben.

Für diesen Aufschwung gibt es zwei Hauptgründe. Die Sammlungsstrategie des Abgeordneten für das westliche Département Pyrénées-Atlantique kommt bei den Wählern um so besser an, als eine wachsende Mehrheit (nach jüngsten Umfrageergebnissen 60 Prozent) der Meinung ist, daß die alte Trennung zwischen Rechts und Links keine politische Bedeutung mehr hat. Während seines Wahlkampfes hat 55jährige Bayrou unermüdlich ebenjene "fruchtlose Gegenüberstellung" kritisiert, in der er den Hauptgrund für die Krise der französischen Institutionen sieht. Dabei griff er zugleich das Monopol des "Duos" Royal/Sarkozy innerhalb des "Systems" an. Populistisch stellt er sich als Opfer eines "Medienkomplotts" dar und mobilisiert die Franzosen gegen die "Absprache" zwischen den Sozialisten (PS) und der bürgerlichen UMP. Nebenbei betont Bayrou die eigene bäuerliche Herkunft, um sich als Kandidat der Regionen gegen den Pariser Zentralismus zu präsentieren.

Der zweite Grund ist ein pragmatischer: Den Umfragen zufolge könnte Bayrou in der zweiten Wahlrunde am 6. Mai sowohl Sarkozy wie Royal schlagen. Bei einer Stichwahl zwischen Royal und Sarkozy hätte der bisherige Innenminister die besseren Chancen. Deshalb wollen manche PS-Anhänger gleich für Bayrou stimmen.

Bayrous Gegner leugnen nicht dessen Willen zur Unabhängigkeit, werfen ihm jedoch vor, kein politisches Programm zu haben und ein Regime des "dritten Weges" herbeiführen zu wollen, dessen angeblich unvermeidliche Instabilität an die schlimmsten Tage der Vierten Republik (1946-1958) erinnern würde. Zumindest ersterer Vorwurf ist unberechtigt. Bayrou fordert, Europa müsse sich gegenüber den USA als unabhängige Macht behaupten. Er kritisiert sowohl Sarkozys mangelnde Distanz zu Washington wie dessen Absicht, einen neuen EU-Verfassungsentwurf nur dem Parlament vorzulegen, statt eine neuerliche Volksabstimmung abzuhalten. Einen EU-Beitritt der Türkei lehnt Bayrou ebenfalls ab.

Selbstverständlich ist noch nicht absehbar, ob Bayrou seinen Erfolgskurs beibehalten kann. 55 Prozent der Franzosen geben an, noch keine endgültige Wahlentscheidung getroffen zu haben. Doch daß sich in der Stichwahl Sarkozy und Royal gegenüberstehen, ist inzwischen unwahrscheinlicher geworden. Von den sechs Kandidaten der extremen Linken (Kommunisten, Trotzkisten, Grüne u.a.) drohen keine Überraschungen. Sie liegen in Umfragen allesamt unter fünf Prozent. Viele linke Wähler machen nicht zuletzt die Streuung ihrer Stimmen 2002 für die Niederlage des PS-Kandidaten Lionel Jospin und den Erfolg Le Pens verantwortlich - das soll sich nicht wiederholen. Deshalb ist es unwahrscheinlich, daß für die "Überraschung 2007" wieder Le Pen selbst sorgt.

Le Pen kann mit Stimmen aus neuer Wählerklientel rechnen

Der 78jährige Europaparlamentarier und Chef des Front National (FN) liegt mit 14 Prozent deutlich hinter dem Führungstrio. Doch wird sein Potential unterschätzt. Im Februar 2002 lag er bei nur acht Prozent - in der ersten Wahlrunde zwei Monate später kam er auf 16,8 Prozent. Laut einer Umfrage vom Dezember 2006 stimmt gut jeder vierte Franzose (26 Prozent) inzwischen mit Le Pens Ansichten überein - nur 34 Prozent halten seine Positionen für "inakzeptabel". Ende der neunziger Jahre lagen die Werte noch bei 19 bzw. 48 Prozent. Allerdings beabsichtigen 85 Prozent derjenigen, die am 22. April für Le Pen stimmen wollen, in der Stichwahl ihr Kreuz bei Sarkozy zu machen. Dessen jüngster Vorschlag, ein Ministerium für Einwanderung und nationale Identität zu schaffen, klingt verdächtig danach, als wolle er Le Pen Wähler abspenstig machen.

Außerdem sind sich die Analysten einig, daß Le Pen mit Stimmen aus neuen Wählerschichten rechnen kann, etwa unter den jungen Arbeitern, den Einwohnern mittelgroßer Städte und sogar Angehörigen der zweiten oder dritten Einwanderergeneration. Auch in den berüchtigten Banlieues, wo bereits 2002 17 Prozent der ausländischstämmigen Jungwähler den FN wählten, dürfte wiederum ein "Le-Pen-Effekt" spürbar werden.

Seit einigen Monaten schlägt der FN daher eine deutlich andere Rhetorik an. Neuerdings sind auf Wahlplakaten junge, lachende "Beurettes" zu sehen, wie arabischstämmige Franzosen im Slang der Banlieues genannt werden. Im September 2006 lud Le Pen in einer Rede in Valmy (wo 1792 die Französische Republik proklamiert wurde) "Franzosen ausländischer Herkunft" ausdrücklich ein, sich "uns anzuschließen". Ende Februar würdigte er in Lille die seit hundert Jahren währenden sozialen Kämpfe gegen den "Raubtierkapitalismus". Le Pens 38jährige Tochter Marine durfte sich kürzlich im Radiosender Beur-FM äußern, der ansonsten "musikalische und kulturelle Neuheiten aus dem Maghreb" bringt.

"Wenn in einer zweiten Runde Sarkozy und Le Pen gegenüberstehen, werde ich Le Pen wählen", erklärte der schwarze Rapper Rost, treibende Kraft hinter dem Verein "Banlieues actives". Ähnlich äußerte sich der Betreiber der Internetseite La Banlieue, Ahmed Moualek. Laut Farid Smahi, seit 1998 Mitglied im "Politbüro", dem zweithöchsten Gremium des FN, ist die Zahl der Parteimitglieder maghrebinischer Abstammung seit 2002 von 1.000 auf heute 2.700 angewachsen.

Der Schriftsteller Alain Soral, ein Ex-Kommunist, der seit einigen Monaten zu Le Pens Wahlkampfstab gehört, schwärmt von dem "revolutionären Bündnis" zwischen der Banlieue-Jugend, Opfer der "neokolonialen sozialdemokratischen Bevormundung", und der Mittelschicht, die sich bedroht sehe von der "extremen Rechten der Arbeitgeber" und dem "globalisierten Neokapitalismus". In der Überzeugung, daß "das Volk schneller begreift als die Eliten", wagt er sogar die Behauptung; "Wenn Karl Marx noch lebte, würde er Front National wählen!"

In der FN-Zeitung National-Hebdo liest man, das "historische Interesse des Neoproletariats mit Migrationshintergrund" liege in einem Bündnis mit der Mittelschicht. Schließlich "waren und sind die Araber und Afrikaner seit jeher 'rechte Völker'", so daß sich "ganz selbstverständlich ein Zusammenkommen ergeben müßte zwischen den gesunden Werten des Volkes und der Aristokratie - die häufig dieselben sind - und der kulturellen Substanz unserer Nachbarn vom anderen Mittelmeerufer, im Verein gegen eine Gesellschaft, die den Menschen zur Ware macht". An den extremistischeren Rändern der Partei hält sich die Bereitschaft zur Akzeptanz dieser Wende indes in Grenzen. Unter den katholischeren Mitgliedern stößt auch Marine Le Pens "laxe" Haltung in der Abtreibungsfrage auf Kritik - während andere ihre "jakobinische" Ablehnung der Regionalsprachen und des "Europa der Regionen" nicht goutieren.

An die Stelle der Protestwahl ist eine Störwahl getreten

Obwohl diesmal viel auf dem Spiel steht, mangelt es dem Wahlkampf an Inhalten. Régis Debray stellte in Le Monde fest, den heutigen Politikern sei gemeinsam, über mehr Kompetenz denn Charakter zu verfügen, sich in der Außenpolitik durch die Bank auf die Menschenrechtsideologie zu berufen ("dabei weiß jeder, daß Menschenrechte noch keine Politik machen"), und: "Was nicht im Fernsehen passiert, existiert für sie nicht". Sein Beitrag schloß mit den Worten: "Die entscheidende Frage ist gegenwärtig, ob Europa gegenüber dem Süden und dem Islam eine Alternative zu Amerika darstellen kann, oder ob der Westen sich dazu verdammt, ein einziges Gesicht zu haben, das des Empire. Darüber kommt man ins Zaudern. Nicolas Sarkozy lädt uns auf einen Direktflug von Paris nach Washington ein. Mit Ségolène Royal wird die Maschine bescheiden eine Zwischenlandung in Oslo oder Kopenhagen einlegen."

Interessant an dieser Wahl ist, daß sie mit einer Umsortierung der politischen Blöcke einhergeht. Royal bemüht sich um Distanzierung von der PS. Sarkozy will sich von Chirac abgrenzen und zitiert gelegentlich Sozialisten wie Léon Blum oder Jean Jaurès. Bayrou, der 2006 nicht davor zurückscheute, sich dem Mißtrauensantrag der PS-Fraktion gegen Ministerpräsident Dominique de Villepin wegen der "Clearstream-Affäre" anzuschließen, hat sich im Wahlkampf weit von der christdemokratischen Tradition entfernt, aus der die 1978 vom damaligen Präsidenten Valéry Giscard d'Estaing gegründete UDF ursprünglich hervorging. Ein Sieg Bayrous würde die politische Landschaft völlig durcheinanderbringen, zumal er bereits angekündigt hat, in diesem Fall eine neue Partei gründen zu wollen.

Umfragen zufolge haben 71 Prozent der Franzosen eine "schlechte Meinung" von ihren Politikern. 49 Prozent halten sie für "korrupt", und 70 Prozent trauen weder der Linken noch der Rechten zu, das Land zu regieren. Dieser Graben zwischen der politischen Klasse und den Wählern erklärt, warum das "dissidente Wahlverhalten" zunimmt: Darunter faßt der Politologe Dominique Reynié sowohl die Nichtwähler sowie diejenigen, die ungültig wählen, als auch die, die für chancenlose Kleinparteien stimmen. 1974 machte diese "Dissidenz" 19,4 Prozent der im Wählerverzeichnis Eingetragenen aus, 2002 über 50 Prozent. "An die Stelle der Protestwahl ist eine Störwahl getreten, die darauf abzielt, das System zu blockieren - die Wähler benehmen sich gleichsam wie Computerhacker", warnt Reynié.


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