© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/07 06. April 2007

Pankraz,
der tote Hund und die gläserne Manege

Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist ein Rezensent." So wetterte einst der junge Goethe in seiner Sturm-und-Drang-Zeit. Es war der höchste Zorn von Dichterseite, der je gegen die Literaturkritiker losgebrochen ist. Erst in allerjüngster Zeit werden wieder ähnliche Tonhöhen erreicht, man denke an die Auftritte von Günter Grass auf der letzten Leipziger Buchmesse! Und Grass steht nicht allein. Die Wut auf die Kritiker, auf den "Literaturbetrieb", nimmt von Jahr zu Jahr zu und erfüllt vor allem die literarischen Großmeister.

Martin Walser hat in einem Extra-Roman zum Thema, "Tod eines Kritikers", Invektiven in Stellung gebracht, die denen von Grass in keinem Belang nachstehen. Hans Magnus Enzensberger spricht seit langem, wenn er Kritiker meint, nur noch von "Inquisition". Heutige Rezensenten, sagt er, kritisieren nicht mehr das, was sie zu lesen kriegen, sondern gerade das, was sie nicht zu lesen kriegen. Die Bücher der Autoren seien nur noch Bauklötzchen in der Hand von Ignoranten, welche damit ihre eigenen Wahngebilde aufbauten.

Als Ausdruck gekränkter Autoren-Eitelkeit lassen sich solche Worte gewiß nicht abtun, dafür sind sie zu gut überlegt und zu grundsätzlich. Vielmehr deuten sie darauf hin, daß im literarischen Leben der letzten Zeit tatsächlich verhängnisvolle Verschiebungen stattgefunden haben, weg von den originalen Wortproduzenten, hin zu den Räsoneuren, zu den Konsumenten, zu den "Fressern", die schon Goethe in seinem Gedicht von 1773 im Auge hatte: "Hat sich der Mensch pumpsatt gefressen ..., Tut ihn der Teufel zum Nachbar führen, / Über mein Essen zu räsonieren ..."

Der Nachbar - das ist heute die sogenannte "kritische Öffentlichkeit", insbesondere die televisionären Talkshow-Runden, wo die Autoren in erster Linie politisch geprüft und nach ihrer Zeitgeist-Tauglichkeit eingeordnet werden. Sowohl Günter Grass als auch Martin Walser und Hans Magnus Enzensberger bekamen das zu spüren. Die fraglichen Werke von ihnen wurden zunächst einmal unter ausschließlich politischen Gesichspunkten rezensiert, und zwar mit ungeheurer Lautstärke und mit schrillster Polemik wegen an sich kleiner, ja, läppischer Abweichungen vom Zeitgeist.

Nicht nur die Autoren selbst, auch die "normalen" Leser waren verstört. Es ging gar nicht in erster Linie darum, wer nun recht hatte, die Autoren oder die Kritiker, es ging und geht um den schallenden Tribunalton, der von Anfang an angeschlagen wird, um den unbedingten Willen zum politischen Skandal auf seiten der Kritiker, um deren in jedem Wort vernehmbare Wonne, ohne eigenes Risiko als Ankläger fungieren zu dürfen. Enzensberger hat recht: Das ist keine Literaturkritik mehr, das ist Inquisition. Die Kritiker sind zu Inquisitoren geworden.

Und eine weitere "Fresser"-Mentalität tritt hinzu und verschärft die Misere: Der Kritiker neuesten Zuschnitts fühlt sich nicht nur als Inquisitor, sondern auch als Dompteur, als eine Art behördlich angestellter Pferde- und Löwenbändiger. Er agiert, wie Martin Walser im "Tod eines Kritikers" schreibt, in einer gläsernen Manege, in der er die Autoren unter Peitschenknall einem eher gelangweilten Publikum, das auf Teufel komm raus unterhalten werden will, regelrecht vorführt.

Was die Autoren abliefern, ist für ihn kein Original, sondern gewissermaßen Rohmaterial, das er, der Kritiker, erst aufbereiten "muß". Nicht mehr der Autor, der Kritiker steht im Mittelpunkt. Er ist es, der im modernen Literaturbetrieb dafür sorgt, daß aus der "bloßen" Literatur eine echte Show wird. Der Autor seinerseits, der ursprünglich ins Rennen ging, weil er glaubte, etwas Wichtiges zu sagen zu haben, verwandelt sich in eine gezähmte Bestie oder in ein Tausendtalerpferd mit Superkruppe, das Männchen macht - oder aber in ein Zirkusäffchen, das unterm Grölen der Menge der "E-O-Kultur" (M. Walser) zugeführt wird, E für Ejakulieren, O für Orgasmus.

Ja, man kann den tiefen Zorn unserer hochbetagten, ruhmbedeckten Starautoren auf die Kritik gut verstehen, einerlei wie man im einzelnen zu ihnen und zu ihren jeweiligen Zornesäußerungen stehen mag. Und verstehen kann man auch, daß sie mit ihren Eskapaden und Selbstbehauptungs-Offensiven immer noch, wie nun schon seit Jahrzehnten, die öffentliche Bühne und den literarischen Diskurs beherrschen und bestimmen und damit den Jüngeren - angeblich - die Butter vom Brot nehmen. Dieser Umstand spricht sehr für den guten Geschmack unseres offenbar immer noch vorhandenen literarischen Stammpublikums, läßt hoffen.

Gibt es denn überhaupt Jüngere, die den bekannten alten Literaturrecken auch nur halbwegs das Wasser reichen können? Neulich las Pankraz in einer linken Zeitung die verwunderte Klage darüber, daß die Grass, Walser, Lenz, Kempowski & Co. "immer noch" das meiste Interesse auf sich zögen, obwohl doch "die schönen Gesichter" jüngerer Schreiber schon überall aus den Verlagsprospekten herauslugten. Warum wende sich die Aufmerksamkeit nicht endlich diesen schönen Gesichtern zu? Ja, warum nicht?

Grotesk an sich, daß man es extra sagen muß: Es genügt eben einfach nicht (hat bisher jedenfalls nicht genügt), daß man sein schönes Gesicht in die Medien schiebt und hier und da ein bißchen "Wohlfühlliteratur" (H.-Chr. Buch) absondert, etwa von der ersten "E" oder dem ersten "O" erzählt und - nicht zu vergessen! - von der untilgbaren Schuld des Opas und wie man ihn eines Tages entlarvt und ordnungsgemäß in die Erinnerungskultur eingeführt hat. So etwas gefällt nicht einmal modernen Kritikern.

Die wollen ja zähmen und abrichten und anklagen. Wer schon gezähmt und geistig tipptopp abgerichtet die gläserne Manege betritt, löst nichts als Gähnen aus. Außerdem muß es doch nicht für alle Ewigkeit die gläserne Manege mit ihrer kritikergeleiteten E-O-Kultur sein. Man muß Rezensenten auch nicht totschlagen, wie der junge Goethe empfahl. Es dürfte genügen, wenn ein gutes, gebildetes Publikum sie intensiv ignoriert.


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