© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/07 06. April 2007

Der Anarchist der Wiener Klassik
Unerhörte Finessen: Erinnerung an den bürgerlichen Meister Joseph Haydn
Wiebke Dethlefs

Auch die Kunst größter Meister braucht nicht über den Zeiten zu stehen, sondern kann sich in ihnen wandeln. Dieser vielleicht banale Satz gilt natürlich für Künstler, die bereits ihre Zeit zu polarisieren verstanden, weil sie revolutionierend wirkten wie etwa Wagner, und er gilt für solche, die in das Fahrwasser der Tagespolitik gerieten wie etwa Richard Strauss.

Doch er gilt auch für Joseph Haydn, der nur auf den ersten Blick jener biederzopfige "Papa Haydn" ist, zu dem ihn das 19. Jahrhundert machte. Mozart schuf ein Werk in gleichsam apollinischer, überirdischer Schönheit, Beethoven erreichte in seiner Tonsprache Tiefen des Gefühls und der Leidenschaft, die bis dato unbekannt blieben und mit denen er zu oft seine Zeitgenossen verschreckte. Haydn stand dreißig Jahre lang in sicherer Stellung beim Fürsten Esterházy, was ihm ermöglichte, in seiner kompositorischen Arbeit neue musikalische Formen oder Instrumentalkombinationen direkt zu erproben oder ganz allgemein in einem musikalischen Labor zu experimentieren. Ein bürgerlicher Meister eben, im besten Sinn des Wortes.

Natürlich war Haydn ein Kind seiner Zeit, des "galanten" Stils. Seine großartigen Neuerungen und Formversuche waren niemals so revolutionär, daß sie unmittelbar beim Hören spürbar wurden. Doch sind die kompositorischen Finessen tatsächlich so "unerhört", daß sie selbst über diejenigen Mozarts weit hinausgehen. Das Hauptthema des ersten Satzes der Oxford-Symphonie (Nr. 92) pendelt orientierungslos auf dem Dominantseptakkord hin und her (heute nichts Außergewöhnliches, doch damals war es musikalische Anarchie), im Finale der Nr. 101 läßt er 44 Takte lang die Themen pianissimo im doppelten Kontrapunkt nebeneinanderher jagen, und das erste Thema des ersten Satzes der Nr. 100 ist zwar ein normaler Achttakter, läßt sich aber keinesfalls in irgendeine zwei- oder viertaktige Periode gliedern. Es ist höchste musikalische Asymmetrie, die man dennoch symmetrisch hört.

Höchste Asymmetrie, die man doch symmetrisch hört

Von kaum einem anderen Meister läßt sich behaupten, daß er schon zu Lebzeiten der berühmteste Komponist seiner Epoche war. Auf Haydn trifft das wirklich zu. Selbst aus dem fernen Cádiz kamen Bestellungen von Kompositionen. Aber nur wenige Jahre nach seinem Tode änderte sich sein Ansehen. Für Robert Schumann war Haydn jemand, "den man respektvoll begrüße, aber der völlig aufgehört habe, spezielles Interesse zu erwecken". Doch seit etwa dreißig Jahren findet eine großangelegte Haydn-Renaissance und endlich eine breite Würdigung statt. Haydns gewaltiges Werk ist auch bis auf einige marginale Kompositionen vollständig auf Tonträgern zugänglich. Dennoch ist Haydn unter den großen Meistern der Musik einer der unbekanntesten, nicht nur wegen seiner Biographie. Denn über seine ersten sechzig Lebensjahre weiß man vergleichsweise wenig, erst die Zeit ab 1790 ist stärker dokumentiert. In der Praxis des Konzertbetriebs jedenfalls spielen über 90 Prozent seiner Schöpfungen, die alle musikalischen Gattungen nebst Oper bedienen, leider überhaupt keine Rolle.

Für die Musikgeschichte stehen in diesem Gesamtwerk 104 Symphonien und 83 Streichquartette im Kern. Die Gattung Symphonie, die es ohne ihn in ihrer späteren Form nicht gäbe, führt er vor Beethoven und selbst neben Mozart zu ihrem unerreichten Gipfelpunkt. 83 Streichquartette entsprangen seiner Feder. Auch diese Form gab es vor ihm so gut wie nicht. Doch war sich das Musikleben in den letzten zweihundert Jahren niemals dieser grandiosen Schaffensfülle bewußt . Daran hat auch Haydns 275. Geburtstag am 31. März nichts geändert.


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