© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/07 06. April 2007

Hitlers Thukydides
Eine beachtenswerte Biographie Percy Ernst Schramms, des Mediävisten und Kriegstagebuchführers
Michael Hoffmann

Um den 20. Juli 1944 erhielt Major Percy Ernst Schramm, im Zivilberuf Professor für mittelalterliche Geschichte, Post aus Straßburg. Einer schönen Gewohnheit folgend, hatte ihm der jüngere Kollege Günther Franz einen Sonderdruck seiner neuesten Publikation zugeschickt. Schramm antwortete umgehend: "... solange mir kein plausibler Grund bekannt wird, weshalb Sie bei Ihrem Alter und Ihrer - wie ich voraussetze: guten - Gesundheit und einer noch nicht dagewesenen Anspannung der Lage noch immer nicht einer Truppe angehören, möchte ich mit Ihnen keine persönlichen Beziehungen unterhalten."

So war er eben, energisch und geradheraus, der Kriegstagebuchführer im Wehrmachtführungsstab des Oberkommandos der Wehrmacht, den nach 1945 Erwin Panofsky als "Hitlers Thukydides" verhöhnte. Als arbeitswütigen, ständig "unter Dampf" stehenden, auf den Reisen zwischen dem ostpreußischen Führerhauptquartier und dem Berchtesgadener Berghof Bücherkoffer schleppenden Berserker hat man ihn aus den Diarien und Briefen seines Untergebenen Felix Hartlaub im Gedächtnis. Doch wie David Thimmes weitausgreifende Biographie des Göttinger Mediävisten jetzt zeigt, speiste sich solcher Aktivismus keineswegs aus nationalsozialistischer Überzeugung. Das kann Thimme schon mit einem Hinweis auf Schramms Schwägerin Elisabeth von Thadden klarstellen, die am 1. Juli 1944 vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und im September 1944 hingerichtet wurde.

Liest man von diesem Punkt aus Thimmes Darstellung rückwärts, entfaltet sich ein ganzer Strauß von Widersprüchen, der Schramms Lebensweg in seiner Komplexität exemplarisch werden läßt für eine bürgerlich-akademische Existenz während der NS-Herrschaft. Als höchster Wert erweist sich für diesen Hamburger Patriziersprößling und Kriegsfreiwilligen von 1914 die deutsche Nation. Und zwar in solcher Ausschließlichkeit, daß über dieses Absolutum keine Reflexion mehr stattfand. Dem mußten andere Werte und Loyalitäten untergeordnet werden.

Thimme verfällt hier glücklicherweise nicht in die naiv-moralisierenden Faseleien eines Manfred Messerschmidt, der neulich Schramm vorzuhalten meinte, er habe die "Verbrechen der Wehrmacht" nicht ins Kriegstagebuch des OKW eingetragen. Aber er beschreibt, wie sich aus Vor- und Nachrangigem ein Arrangement ergab - für die Jahre bis 1939 natürlich primär anhand des Verhältnisses zu jüdischen Freunden, Bekannten, Schülern. Daran mangelte es dem Professor nicht, der schon als Gymnasiast Aby Warburg seinen Mentor nennen durfte und der in den zwanziger Jahren in engen persönlichen und Arbeitsbeziehungen zur Hamburger Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg stand. Das zentrale NS-Ideologem, wonach alles Unheil der Welt von der "jüdischen Rasse" zu verantworten sei, mußte ihm daher bestenfalls als Verirrung erscheinen. Konsequent focht der "volksparteiliche" Schramm 1932 in einer lokalen Wählerinitiative gegen Hitler und für eine erneute Reichspräsidentenschaft Hindenburgs. Als aber 1933 der Machtwechsel stattfand, den er als Gastprofessor in Princeton nur aus der Ferne beobachtete, war er sofort bereit, die neue Obrigkeit mit Deutschland gleichzusetzen und die NS-Regierung vor einem skeptisch-feindseligen US-Publikum zu verteidigen.

Privat unterlief Schramm zwar den neuen antijüdischen Kurs, indem er Kontakt zu jüdischen Freunden hielt und vielen bei der Emigration half. Trotzdem, so Thimme, habe er die "theoretische Grundvoraussetzung des Antisemitismus von der 'rassischen' Andersheit der Juden" akzeptiert. Ungeachtet seiner im Grunde "wohlwollenden Einstellung zur jüdischen 'Rasse'" habe er daher eine "antisemitische Politik bis zu einem gewissen Grad für berechtigt" gehalten. Und insoweit Schramm den jüdischen Einfluß auf die Geschicke der Nation aus dieser Perspektive als "schädlich" auffaßte, war weder gegen das Berufsbeamtengesetz noch gegen die Nürnberger Gesetze etwas einzuwenden, ließ sich die "Reichskristallnacht" als bedauerlicher Exzeß abtun.

Treffend konstatiert Thimme: "Schramm hatte zwar eine christlich gefärbte Vorstellung von der Würde des Menschen. Sie besaß für ihn aber nicht denselben Stellenwert wie jene Fixpunkte seiner Weltanschauung, die sich auf die nationale Politik bezogen." Er sei weit davon entfernt gewesen, der "Menschenwürde und anderen Normen, die sich auf das Individuum bezogen, dieselbe Tragweite zuzubilligen wie der Verpflichtung auf sein Vaterland. Er hätte nie gezögert, für das, was er für das Wohl des deutschen Volkes hielt, sein Leben zu opfern." Und da er davon überzeugt gewesen sei, daß durch die NS-Politik "dem Ganzen" gedient werde, habe er es ertragen, daß "eine Gruppe", die Juden, "diskriminiert und ausgeschlossen" werden mußte.

Erst nach 1945 rückte Schramm von dieser Identifizierung des Nationalsozialismus mit Volk und Reich ab. Es war ein Gutachten des Göttinger Ordinarius, das 1952 zur Verurteilung des schwadronierenden, sich seiner Verdienste bei der Liquidierung der "Verräter" um Stauffenberg rühmenden Otto Ernst Remer führte und so eine vorsichtig positive Bewertung der "Verschwörer des 20. Juli" anbahnte.

Erstaunlich bleibt, daß Schramms ultranationalistische Fixierungen seine Arbeit als Historiker des Mittelalters kaum berührten. Zumal in der Atmosphäre der zwanziger Jahre, als idealisierende, nicht allein das katholische Milieu faszinierende Entwürfe mittelalterlicher "Einheit" und "Ordnung" als sinnstiftende, "reichsmythologische" Kontrastbilder aus dem "Chaos" der Gegenwart herauszuführen versprachen. Thimme veranschaulicht Schramms kühle Unempfänglichkeit, seinen historistischen "Objektivismus", anhand eines Vergleichs mit dem Werk des befreundeten Ernst H. Kantorowicz. In dessen im Geist Stefan Georges geschriebener Biographie über "Kaiser Friedrich II." (1927) sei - wie Thimme in zu unkritischer Anlehnung an den Simplifikateur Otto Gerhard Oexle ("Das Mittelalter als Waffe") ausführt - die Intention unverkennbar gewesen, in die düstere Weimarer Gegenwart eine lichte Führergestalt hineinzustellen. Geschichtsschreibung diente hier der geistigen Antizipation eines nachdemokratischen Äons. Eine "ähnliche Stoßrichtung" sei aber in Schramms Meisterstück "Kaiser, Rom und Renovatio" (1929) nicht erkennbar. Hier strenge sich der Verfasser vielmehr an, seinen Helden, Kaiser Otto III., von der Gegenwart abzurücken. Denn anders als Kantorowicz habe Schramm stets "erhebliche Bedenken" gehabt, "Geschichtswissenschaft für gegenwartsbezogene Ziele zu instrumentalisieren".

Gemessen an anderen Historiker-Biographien neueren Datums inszeniert Thimme in Sachen Schramm keine Gerichtsverhandlung. Das nimmt sehr für seine Arbeit ein - auch wenn unter den zu lang geratenen Inhaltsreferaten die im Untertitel versprochenen "Wandlungen" in Schramms Mittelalter-Deutungen kaum zu erkennen sind. Zu blaß bleibt auch die zweite Lebenshälfte, beginnend mit seiner militärischen Reaktivierung 1939, ausklingend mit den "Neun Generationen" (1964), der besten Kulturgeschichte Hamburgs, die bis heute erschienen ist und mit der der Senatorensohn "der Katastrophenerfahrung der Deutschen ein Element bürgerlicher Dauer entgegensetzen" (Joist Grolle) wollte.

Foto: Percy Ernst Schramm 1959 mit seiner Mutter, dahinter das Porträt des Vaters Max, 2. Bürgermeister Hamburgs 1925-28: Nie gezögert, für das Wohl des deutschen Volkes sein Leben zu opfern

David Thimme: Percy Ernst Schramm und das Mittelalter. Wandlungen eines Geschichtsbildes. Vandenhoeck&Ruprecht, Göttingen 2006, gebunden, 670 Seiten, 39,90 Euro


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen