© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/07 20. April 2007

Filbingers Fälle
Wirbel um Oettingers Grabrede: Der frühere Ministerpräsident Hans Filbinger und seine Rolle als Marinerichter im Zweiten Weltkrieg
Günther Gillessen

Über Hans Filbingers Tätigkeit als Marinerichter eine zutreffende Vorstellung zu erlangen, setzt voraus, die Bedingungen zur Kenntnis zu nehmen, die seinen Entscheidungsraum in der Militärgerichtsbarkeit der Marine begrenzten. Die erste fachhistorische Untersuchung darüber stammt von Heinz Hürten, Wolfgang Jäger und Hugo Ott ("Hans Filbinger, der 'Fall' und die Fakten", 1980). Die zweite von Franz Neubauer ("Das öffentliche Fehlurteil", 1990) behandelt speziell die juristischen Sachverhalte, Neubauer macht auf Dutzende sachlicher Irrtümer bei dem Schriftsteller Rolf Hochhuth, in Zeitungsartikeln namhafter Journalisten und selbst bei den an Filbingers Prozeß vor dem Landgericht Stuttgart beteiligten Rechtsanwälten und Richtern aufmerksam.

Dokumentiert ist, daß der Oberfähnrich zur See Dr. jur. Hans Filbinger in Frühjahr 1943 gegen seinen erklärten Willen als Stabsrichter zur Militärjustiz der Marine kommandiert wurde und daß er sich diesem Auftrag durch freiwillige Meldung zur U-Bootwaffe zu entziehen suchte. Erwiesen ist auch, daß er als Heranwachsender aktiv in dem katholischen Jugendbund "Neudeutschland" gewesen und als Student in Freiburg Kreisen verbunden war, die zum religiösen, konservativen und freiheitlichen Umfeld (u.a. Walter Eucken) der Widerstandsbewegung des 20. Juli gehörten. Zwei der 1945 ermordeten Verschwörer, beides Militärjuristen, nämlich der Chef des Heeresgerichtswesens, Karl Sack, und der Völkerrechtsreferent im Oberkommando der Marine, Berthold Graf von Stauffenberg, Bruder des Attentäters vom 20. Juli, hatten den Marinestabsrichter Filbinger ohne dessen Wissen dem Stadtkommandanten von Berlin, Paul von Hase, für eine Verwendung nach gelungenem Putsch empfohlen mit der Bemerkung, auf Filbingers "anti-nationalsozialistische Grundsatztreue und Loyalität" könne man sich jederzeit verlassen. Das macht Filbinger nicht zum Widerstandskämpfer, aber es zeigt, daß er Bertold von Stauffenberg und Karl Sack Gründe gegeben haben muß, ihn "in petto" zu nehmen.

Das Militärstrafrecht der Wehrmacht war kein Geschöpf das NS-Staates, sondern das im Kern unveränderte deutsche Militärstrafrecht von 1872. Es entsprach dem international Üblichen und kann deshalb nicht als "Nazi-Recht" abgetan werden. Im Verlauf des Krieges drängte freilich die politische Führung die militärische Führung und diese die Militärgerichte zunehmend zur Ausschöpfung des gesetzlichen Strafrahmens, vor allem zur Verhängung von Todesstrafen (siehe Seite 17 dieser Ausgabe).

An Weisungen des Gerichtsherrn gebunden

Die schwerwiegendste Änderung des hergebrachten Militärstrafrechts geschah bei Kriegsbeginn mit der Einführung eines typischen NS-Deliktes, der "Zersetzung der Wehrkraft". Mit der Todesstrafe konnte bestraft worden, "wer öffentlich dazu auffordert oder anreizt, die Erfüllung der Dienstpflicht in der deutschen oder verbündeten Wehrmacht zu verweigern oder sonst öffentlich den Willen des deutschen oder verbündeten Volkes zur wehrhaften Selbstbehauptung zu lähmen oder zu zersetzen sucht". Nahezu beliebig dehnbar waren alle vier Merkmale, der Anreiz, die Absicht, die Zersetzung und die Öffentlichkeit. Jede mißliebige politische Äußerung konnte ein fanatischer Richter als "Zersetzung der Wehrkraft" interpretieren.

Die Militärgerichte bestanden seit der Kaiserzeit aus einem ausgebildeten Juristen als Vorsitzendem und zwei Soldaten als Beisitzern. In der Rechtsfindung waren sie unabhängig. Das Urteil bedurfte jedoch der Bestätigung eines höheren Kommandeurs als "Gerichtsherrn". Er hatte dazu ein Gutachten seines juristischen Beraters einzuholen. Verweigerte der Gerichtsherr die Bestätigung des Urteils, ging die Sache in der Regel an das erkennende Gericht zurück, das dann in anderer Besetzung ein zweites Mal zu verhandeln hatte. In diesem Falle enthielt die schriftliche Begründung der Nicht-Bestätigung zugleich den dienstlichen Befehl an den Vertreter der Anklage, wie er im zweiten Verfahren zu plädieren habe. Die Weisung war bindend, Nichtbefolgung Gehorsamsverweigerung.

Aus dem Verhältnis beider Institutionen ergab sich, daß das Gericht bei der Urteilsfindung nicht ignorieren konnte, daß das Urteil der Zustimmung den Gerichtsherrn, zunächst dessen juristischen Beraters, bedurfte. Je nach Konstellation der Personen konnte es der Schonung eines Angeklagten sogar mehr nützen, ihn eher zu einer Strafe in der Mitte das Strafrahmens als zur Mindeststrafe zu verurteilen, damit nicht ein scharfer Gerichtsherr das Urteil verwerfen und ein anderer Richter im zweiten Verfahren auf die zulässige Höchststrafe erkennen konnte. Man ahnt, daß selbst eine heute als drakonisch empfundene Haftstrafe in damaligen Zeiten auch versteckte Milde sein konnte.

Wer milde zu urteilen beabsichtigte, wird dies keinesfalls in die Akten geschrieben haben. Eher wird er bemüht gewesen sein, die Absicht zu verstecken und sich semantisch möglichst im Jargon der Zeit auszudrücken. Der Wortlaut solcher Aktenstücke darf somit nicht allzu naiv gelesen werden. Milde Urteile enthielten Risiken, auch für den Richter selbst. "Rechtsbeugung zugunsten des Angeklagten" konnte kein Richter riskieren wollen, erst recht nicht einer, der auch noch künftig einem armen Teufel helfen wollte.

Dem Vertreter der Anklage fielen drei Aufgaben zu: Er war zunächst Untersuchungsführer, dann Vertreter der Anklage in der Verhandlung und schließlich Vollstreckungsorgan. Nur bis zur Anberaumung der Hauptverhandlung hatte er gewisse Möglichkeiten, das Verfahren zu steuern, etwa durch Ausdehnung der Suche nach Entlastungszeugen, Einholung von Beurteilungen, Auskünften über häusliche Verhältnisse, in der Darstellung des Untersuchungsergebnisses und in seinem Strafantrag. Alles dann Folgende fiel in die Verantwortung den Gerichts - und des Gerichtsherrn. Wenn der Gerichtsherr ein Todesurteil verlangte, mußte der Anklagevertreter es fordern, auch wenn er widerstrebte - es sei denn, er konnte die Rechtswidrigkeit der Weisung begründen und deshalb Einspruch erheben.

Ohne von der Verfahrensordnung Kenntnis zu nehmen, ist es nicht möglich, das Verhalten Filbingers in der Marinejustiz zu beurteilen. Filbingers Gegner haben ihm vor allem vorgeworfen, daß er an Todesurteilen "mitgewirkt" habe. In ihrer Unbestimmtheit ist Mitwirkung eine irreführende, geradezu demagogische Vokabel. Ein Staatsanwalt, der für ein bestimmtes Delikt die im Gesetz vorgesehene Strafe beantragte, möglicherweise unter Weisung, war nicht für den Spruch des Gerichte verantwortlich. Er spielte eine Rolle, und der Verteidiger die entgegengesetzte. Allein die Richter hatten zu urteilen.

In sechs Fällen von über 230 Militärstrafsachen unter Beteiligung Filbingers, die Heinz Hürten zählte, ging es um Tod und Leben. In dreien von ihnen war Filbinger Vertreter der Anklage, in einem vierten konnte er als am Verfahren Unbeteiligter die Bestätigung eines Todesurteils verhindern, und in zwei anderen Verfahren war er Richter. In zwei dieser sechs Fälle rettete er Gegner des Regimes vor dem Todesurteil. Filbinger hatte behauptet, daß durch ihn kein einziger Soldat zu Tode gekommen sei. Tatsächlich war es so, und dies steht in schroffem Gegensatz zu dem 1978 über Filbinger verbreiteten Bild eines sein Unwesen in der Militärjustiz verheimlichenden, unbußfertigen "Nazi-Richters".

Die brisantesten Urteile Filbingers: Im Mai 1943 hatten mehrere Matrosen bei Aufräumarbeiten nach einen Fliegerangriff auf Kiel aus einer Drogerie ein paar Stück Seife, Lippenstifte, Präservative, Filme gestohlen, obwohl streng belehrt, daß auf Plünderung die Todestrafe stehe. Fliegergeschädigte nach dem Bombenschaden noch zu bestehlen, galt im Krieg als besonders empörend. Im Kieler Verfahren war Filbinger Untersuchungsführer und Anklagevertreter. Er nahm zwei konträre Positionen ein. Vor Gericht forderte er für den Anführer der Matrosengruppe, Krämer, die Todesstrafe. Heinz Hürten vermutet besondere Gründe für das auffällige Mißverhältnis zwischen dem geringen Wert des gestohlenen Gutes und der Schwere der Strafe, etwa eine Weisung des Gerichtsherrn an den Anklagevertreter für ein abschreckendes Urteil. "Plünderung" war in der Sichtweise des Militärs jedenfalls nicht nur ein Eigentumsdelikt, sondern auch ein schwerer Anschlag auf die Disziplin der Truppe. Das Kieler Marinegericht verurteilte Krämer zum Tode.

Nach Verkündigung des Urteils, aber noch vor der Ausfertigung ließ Filbinger den Matrosen holen und fragte ihn abermals nach Einzelheiten das Hergangs. Krämer verstrickte sich in Lügen. Er war der Anstifter gewesen, er hatte die anderen auf das Warenlager der Drogerie hingewiesen. Doch hatte er schon eine aufgebrochene Tür vorgefunden. Filbinger stellte ihm suggestive Fragen: Empfinde er das Urteil als zu hart, begreife er sich als Plünderer, habe er unüberlegt gehandelt, sei er von anderen verführt worden? Filbinger berichtete dem Verfasser, so habe er von Krämer die Aussagen erhalten, die er gebraucht habe. "Es war ein Kunststück, eine Manipulation, eine 'Lüge', ohne Zweifel". Filbinger fertigte eine Aufzeichnung der zur Rettung des Mannes geeigneten Aussagen an und legte sie kommentarlos dem Urteil bei, das nun dem Gerichtsherrn zur Bestätigung zugestellt wurde. Dieser forderte Filbinger umgehend auf, zur "Gnadenfrage" Stellung zu nehmen. Die Aufforderung von oben gab Filbinger Gelegenheit vorzutragen, was Gnade rechtfertigen könnte. Filbinger formulierte dem Gerichtsherrn sogleich die Umrisse eines Gnadenerlasses, worauf dieser dann tatsächlich das Todesurteil in eine Zuchthausstrafe umwandelte. Der Matrose kam in ein Militärstraflager.

Es gab keine Gründe, am milderen Urteil festzuhalten

Der zweite Fall behandelte eine Fahnenflucht wegen einer Liebesaffäre und spielte sich in Oslo ab. Walter Gröger, ein einundzwanzig Jahre alter Matrose, war im Oktober 1943 auf das Schlachtschiff "Scharnhorst" versetzt worden, das in einem nordnorwegischen Fjord lag. Während er in Oslo auf die nächste Transportmöglichkeit warten mußte, lernte er eine Norwegerin kennen, schlüpfte zu ihr, und alsbald planten beide eine Flucht nach Schweden. Die Frau aber zögerte und bat nach vier Wochen einen ihr bekannten Feldwebel um Mithilfe für Grögers Verschwinden, was zur Festnahme des Soldaten und der Norwegerin durch die deutsche Militärpolizei führte.

Der Untersuchungsführer und das Gericht in Oslo suchten beide Delinquenten zu schonen. Der Matrose war zwar schon dreizehnmal disziplinarisch und einmal kriegsgerichtlich (wegen Urlaubserschleichung) bestraft worden, aber das lag schon ein Jahr zurück. Inzwischen trug er das Eiserne Kreuz zweiter Klause und die Ostmedaille. Das Gericht erkannte auf Fahnenflucht. Die Absicht hierzu und die Länge der Abwesenheit von der Truppe lasse keine andere Deutung zu. Das Gericht verurteilte Gröger zu acht Jahren Zuchthaus und sah von der Todesstrafe ab, weil es in dem Matrosen trotz seines beträchtlichen Strafregisters einen "guten Kern" entdeckt hatte. Die Frau wurde zu zwei Jahren Gefängnis wegen "Wehrkraftzersetzung" verurteilt. Ihre Strafe wurde ausgesetzt.

Das Bestätigungsverfahren führte in Etappen bis zum Flottenchef. Der erste Gerichtsherr, der Befehlshaber der Seeverteidigung Oslo-Fjord, entschied sich für die Bestätigung des Urteils über Gröger, aber gegen die Strafaussetzung für die Frau. Der Flottenchef, Generaladmiral Otto Schniewind, bestätigte die Feststellung der Fahnenflucht des Matrosen, aber nicht Grögers Zuchthaus-strafe. Er forderte die Todesstrafe.

Damit ging der Fall zurück an das Militärgericht in Oslo. Der Untersuchungsführer, derselbe wie im ersten Verfahren, versuchte günstige Zeugnisse früherer Vorgesetzter Grögers herbeizuschaffen, damit das Gericht mildernde Umstände nachweisen und am ersten Urteil festhalten könne. Das Leben Grögers hing am Nachweis guter Führung. Doch alle zusätzlich eingeholten Beurteilungen bei früheren Vorgesetzten fielen niederschmetternd aus. Auch die Uniformjacke mit dem Band des Eisernen Kreuzes und der Ostmedaille war gestohlen. Der Fall war aussichtslos geworden.

Filbinger war bis dahin nicht damit befaßt. Am Tag der Hauptverhandlunge Mitte Januar 1945 war der Untersuchungsführer verhindert, die Anklage zu vertreten. Filbinger, erst im Dezember nach Oslo versetzt, mußte eine Anklage übernehmen, auf deren Vorbereitung er keinerlei Einfluß hatte nehmen können. In diesem späten Stadium des zweiten Verfahrens war Filbinger angewiesen, die Todesstrafe zu fordern. Das Gericht fand keine Gründe, am milderen ersten Urteil festhalten zu können. Die Behauptung des "guten Kerns" Grögers war kollabiert.

Franz Neubauer weist in seinem Buch mit Entschiedenheit Ansichten von Kritikern zurück, Filbinger hätte Widerspruch gegen die Weisung des Flottenchefs einlegen können; dazu hätte aber die Weisung gesetzwidrig ergangen sein müssen, was nicht zutraf. Auch um Gnade zu bitten, war dem Anklagevertreter nach der Gnadenordnung verwehrt. Nur der Verteidiger konnte den Gerichtsherrn um Gnade bitten. Immerhin waren bei Verurteilungen zum Tode die Richter verpflichtet, in verschlossenen Umschlägen dem Gerichtsherrn Gründe für einen Gnadenerweis darzustellen. Am Ende war es nicht der Flottenchef, sondern der Oberbefehlshaber der Marine selbst, Admiral Karl Dönitz, der den Begnadigungsantrag des Verteidigers für Gröger ablehnte und die Vollstreckung verfügte.

Als die Akte am 15. März 1945 in Oslo eintraf, ordnete Filbinger die Vollstreckung für den nächsten Tag an. Man hat ihm vorgeworfen, er habe damit nicht einmal bis zum Ende der Frist, dem dritten Tage, abgewartet. Auch daß Filbinger sich selbst zum Leitenden Offizier der Vollstreckung einsetzte, ist ihm als Sadismus ausgelegt worden. Den Kritikern war unbekannt, daß der Staatsanwalt verpflichtet war, die Vollstreckung zu beaufsichtigen. Einen anderen Staatsanwalt mit der Aufsicht über den entsetzlichen Vorgang zu beauftragen, galt innerhalb der Justiz als ungehörig.

Filbinger wird mit der Rettung zweier wegen "Zersetzung der Wehrkraft" Angeklagter, des Militärpfarrers Karl-Heinz Möbius und des Oberleutnants Guido Forstmeier, eines Batteriechefs der Marineartillerie, in Verbindung gebracht. Aus diesem Grund sollte ihm dieser Tage in Berlin ein Gedenkgottesdienst zugedacht werden, den Erzbischof Georg Kardinal Sterzinsky allerdings am vergangenen Montag kurzfristig untersagte. Möbius war nach dem 20. Juli 1944 wegen einer politischen Äußerung von einem bekannt fanatischen Militärrichter in Tromsö zum Tode verurteilt worden, und auch der nächstzuständige Gerichtsherr, Admiral Heinz Nordmann, war für seinen Fanatismus bekannt. Filbinger mischte sich als am Prozeß Nichtbeteiligter in das abschließende Bestätigungsverfahren ein und erreichte im Frühjahr 1945 beim Oberkommando der Marine die Wiederaufnahme das Verfahrens. Es endete mit Freispruch.

Im Falle Forstmeier, der sich mit politischen Äußerungen zum 20. Juli mißliebig gemacht hatte, bemühte sich Filbinger als Untersuchungsführer um entlastende Zeugenaussagen, doch fand er sie nicht. Forstmeier hatte sich zu vielen Soldaten allzu unvorsichtig über die zu erwartende Niederlage geäußert. Filbinger griff zu einem gewagten Mittel. Bei der Vernehmung der Belastungszeugen verunsicherte er diese und formulierte ihre Aussagen für das Protokoll derart, daß sie den Angeklagten auch entlasten konnten. Das Gericht ging darauf ein und verurteilte den Batteriechef im März 1945 zur Degradierung zum Matrosen und zu einer Haftstrate mit Bewährungsprobe an der Front, zu der es nicht mehr kam. Forstmeier kam mit heiler Haut davon.

Deserteure erschossen ihren Kommandanten

Einfacher verhält es sich ausgerechnet mit den beiden einzigen Todesurteilen, die Filbinger selbst als Richter zu verantworten hat. Am 16. März 1945 waren vier Matrosen mit den Hafenschutzboot NO 31 nach Schweden geflüchtet, nachdem sie den Kommandanten erschossen hatten. Die Leiche warfen sie über Bord. Am 9. April verurteilte das Gericht in Oslo unter Vorsitz Filbingers den Anführer in Abwesenheit wegen Mordes und Fahnenflucht zum Tode.

Am 16. April 1945 floh der Kommandant eines anderen Hafenschutzbootes, ein Obersteuermann, mit 14 Besatzungsmitgliedern nach Schweden. Tags darauf ging die Meldung ein, und noch am selben Tag verurteilte Filbinger innerhalb einer Stunde den Obersteuermann in Abwesenheit wegen Fahnenflucht und Wehrkraftzersetzung zum Tode. Zwei Tage später war das Urteil bestätigt. Absehbar war jedoch, daß beide Todesurteile eher Formsache waren, da sie bei den Entkommenen keine Anwendung mehr finden konnten. Filbinger konnte sich erst nach der Konfrontation mit den Akten 1978 wieder an sie erinnern. Den Matrosen, der im März 1945 den Kommandanten des Hafenschutzbootes NO 31 erschossen hatte, hat übrigens im Jahre 1953 das Schwurgericht Köln wegen Totschlages zu zehn Jahren Freiheitsstrafe verurteilt.

Einen Hinweis auf Filbingers Motiv kann man dem Fall Petzold entnehmen, den Rolf Hochhut für ungeheuerlich hielt. Filbinger hatte drei Wochen nach Kriegsende, am 29. Mai in britischer Kriegsgefangenenschaft den Flakartilleristen Kurt Olaf Petzold zu sechs Monaten Gefängnis wegen "Erregens von Mißvergnügen (Unbotmäßigkeit), Gehorsamsverweigerung und Widersetzung" verurteilt. Der Soldat hatte unter Alkohol am 10. Mai den Befehl seines Batteriechefs zum Umzug in eine andere Baracke verweigert mit den Worten: "Die Zeiten sind jetzt vorbei, ich bin ein freier Mann. Ihr habt jetzt ausgeschissen, Ihr Nazihunde. Ihr seid schuld an diesem Krieg."

Der Krieg war vorbei, aber die Briten hatten in ihren Kriegsgefangenenlagern in Norwegen die Organisation der Wehrmacht aufrechterhalten. So waren Filbinger und seine Beisitzer noch monatelang nach der Kapitulation gehalten, im Status eines deutschen "Feldkriegsgerichts" und "auf Befehl des (deutschen) Gerichtsherrn und Kommandanten der Seeverteidigung Oslo-Fjord" im britischen Lager nach deutschem Militärrecht Recht zu sprechen. Nur der oberste Gerichtsherr hatte gewechselt. Jetzt war dies König Georg Vl. von England. Als Vollstreckung das Urteils mußte Petzold nur in eine andere Baracke des Gefangenenlagers wechseln.

 

Prof. Dr. Günther Gillessen lehrte an der Universität Mainz und war Redakteur der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung".


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