© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/07 04. Mai 2007

Eine andere Art des Seins
Tibet: Eine englische Journalistin erliegt der Faszination der völlig fremden Lebenswelt
Thorsten Thaler

Tibet, terra incognita, unbekanntes Land, für Menschen insbesondere im Westen so unbekannt, daß der Spiegel-Almanach "Alle Länder der Welt", von A wie Afghanistan bis Z wie Zypern, Tibet erst gar nicht als eigenständigen Eintrag verzeichnet. Wer danach sucht, muß bei der Volksrepublik China nachschlagen. Das ist zwar korrekt (1951 wurde Tibet von China annektiert), aber völkerrechtlich umstritten, und es zeigt eben auch das Desinteresse und die Gleichgültigkeit gegenüber einem der in vielerlei Hinsicht faszinierendsten Länder der Erde. Daran haben weder der in der westlichen Welt hofierte Dalai Lama, das seit 1959 im Exil lebende weltliche Oberhaupt der Tibeter, noch die ausufernde Tibet-Literatur ­ - von Sachbüchern über Belletristik bis hin zu Reisebeschreibungen ­- allzuviel zu ändern vermocht.

Jetzt hat die junge englische Journalistin Claire Scobie (Jahrgang 1972), die heute in Australien lebt, ein weiteres Tibet-Buch vorgelegt. In "Wiedersehen in Lhasa" erzählt sie die Geschichte ihrer Freundschaft mit der elf Jahre älteren tibetischen Nonne Ani; einer Freundschaft, in der sich wenn nicht der Zusammenprall, dann das Aufeinandertreffen zweier Kulturen und Lebenswege spiegelt. Hier die in einer westlich-liberalen, ebenso hedonistischen wie materiell-karrierefixierten Gesellschaft aufgewachsene Autorin, dort die vollkommen mittellose buddhistische Wandernonne, die auf ihrer spirituellen Pilgerschaft zu heiligen Stätten einzig nach einem höheren Daseinszweck strebt, der im Buddhismus verheißenen Erleuchtung. Wie unterschiedlich die beiden Frauen sind, macht Claire Scobie gleich zu Anfang ihrer Schilderung deutlich: "Ich bin eine Intellektuelle und denke in Worten; Ani ist Mystikerin, sie ruht in den Räumen zwischen den Worten."

Einkommen, Immobilien, Autos, Schmuck, Klamotten, Termine, Urlaubsreisen - nichts von dem, worüber sich noch immer die meisten Menschen in westlichen Wohlstandsländern definieren, zählt für die bettelnde Nonne. "Sie hat keinerlei Verpflichtungen, keine Angehörigen, keinen Besitz. Keinerlei Pläne oder irdische Ziele", schreibt Scobie über Ani. "Trotzdem strahlt sie eine robuste Festigkeit aus, als ob sie sich vollkommen aus sich selbst heraus trägt." Es sind Beschreibungen dieser Anders-artigkeit, die einen nicht unerheblichen Reiz dieser Geschichte ausmachen.

Nebenher - und das macht das Buch erst recht zu einer gewinnenden Lektüre - vermittelt Claire Scobie Wissen um die historischen, politischen und kulturell-religiösen Hintergründe Tibets sowie die Traditionen, Sitten und Gebräuche seiner angestammten Bewohner. Anschaulich schildert sie die verheerenden Auswirkungen der chinesischen Kulturrevolution. Die Freiheit des tibetischen Volkes von der seit über fünfzig Jahren währenden chinesischen Fremdherrschaft, seine Unabhängigkeit und Identität ist ihr zu einem Anliegen geworden, zu einer "Herzensangelegenheit", wie sie betont.

In einem Interview mit der Zeitschrift Das Parlament sprach sie kürzlich sogar von einem "kulturellen Genozid", der in Tibet stattfinde. Die chinesischen Behörden seien dabei, ein Tibet nach ihren Vorstellungen zu entwerfen. Scobie: "Die Region verwandelt sich in eine chinesische Provinz, unter anderem mit den Mitteln der Demographie, der wirtschaftlichen Entwicklung und der kulturellen Hegemonie durch die Titularnation."

Kennengelernt haben sich die beiden Frauen 1997 auf einer naturkundlichen Expedition in die unwirtliche, weltabgewandte Region Pemako im Südosten Tibets. Claire Scobie gehört - ausgestattet mit einem Reportageauftrag der Zeitschrift Telegraph Magazine - zu einer Reisegruppe, die auf der Suche nach einer seltenen Blume ist, der roten Lilie. Ani begleitet die Exkursion als ortskundige Führerin. Rasch kommen sich die Frauen auf der beschwerlichen Tour näher, sie fassen Vertrauen zueinander, helfen sich gegenseitig, lernen voneinander. Besonders Claire ist von der Lebenswelt Anis, ihrer Spiritualität und ihrer so ganz anderen Seinsweise fasziniert. Bald fühlt sie sich als Seelenverwandte; es entsteht eine Kameradschaft. Später treffen sich die beiden mehrmals in Tibet wieder, Claire sucht Ani im Kloster auf, und gemeinsam unternehmen sie eine Pilgerreise zum Heiligen Berg Kailash im Westen Tibets an der Grenze zu Nepal. Zuletzt haben sie sich im Februar 2005 in der tibetischen Hauptstadt Lhasa wiedergesehen.

Es ist ein anrührendes Buch, nicht zuletzt dank der Erzählkunst von Claire Scobie. Sie kann zeitlos schöne Sätze schreiben ("Ich atmete mit dem Wind, ich hörte das Land seufzen"), die durch ihre Kontextualisierung niemals banal oder kitschig anmuten. Ihre Schilderungen der tibetischen Landschaft und Natur sind so plastisch, daß man zuweilen die Lektüre unterbricht, die Augen schließt und sich in die beschriebene Szenerie hineinträumt: "Der weiche, weite Himmel veränderte sich von buttermilchfarben zu einem tiefen Blau. Die Sonne goß pfirsichgelbes Licht über die Täler. (...) Getupfte Schmetterlinge so groß wie Fledermäuse flatterten über pelzige Tausendfüßler. Riesige olivfarbene Gespensterheuschrecken flogen im Tiefflug um uns herum, und smaragdgrün glitzernde Hirschkäfer von der Größe von Spielzeugautos arbeiteten sich die Baumstämme hinauf. Alles wisperte, und überall um uns war Grün, ein dunkles, schwindelerregendes Grün."

Bewegend auch, wie sie von ihrer Gefährtin und sich erzählt: "Ani und ich gingen oft schweigend nebeneinander her. Nur ihr Murmeln im Rhythmus ihres Atems war zu hören. Ich bemerkte, wie mühelos sie in diesen stillen See zu fallen schien. Bei der Durchquerung der Landschaft in ihrem Innern fühlte sie sich sichtlich wohl. Ich dagegen schaffte es nur, mich selbst auf Zehenspitzen zu umkreisen." Mit diesem Gefühl dürfte die Autorin nicht allein sein.

Claire Scobie: Wiedersehen in Lhasa. Die Geschichte einer außergewöhnlichen Freundschaft zweier Frauen. Frederking & Thaler, München 2007, gebunden, 262 Seiten, farbige Bildtafeln, 19,90 Euro

Foto: Claire und Ani passieren Hand in Hand wehende Gebetsfahnen: Seelenverwandtschaft; Tibetische Polizei im Morgenlicht auf Streife; die rote Lilie, gefunden am Su-La-Paß im Südosten Tibets: "Ich hörte das Land seufzen"


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