© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/07 11. Mai 2007

Pankraz,
M. Krause und die Liebe zum Tagebuch

Hat eigentlich in diesen Wochen jemand jemals an Martin Krause gedacht? An sich hätten längst Gedenkfeiern zu seinem vierhundertsten Todestag im Februar einsetzen müssen, aber nichts rührt sich, nicht einmal an der Universität Tübingen, deren erlauchtes Lehrkörpermitglied er fast fünfzig Jahre lang war und der er früh schon zu kompaktem internationalen Ruhm verhalf. Kein Festakt, kein Kongreß, nicht einmal ein kleines Erinnerungsseminar.

Dabei war Krause (oder Kraus; die Kirchenbücher sind sich nicht einig) einer der größten Renaissance-Gelehrten und Humanisten Deutschlands, Reuchlin und Erasmus und Melanchthon ebenbürtig, ihnen an Wissen und Fleiß wohl überlegen. Martinus Crusius - so die latinisierte Fassung seines Namens - stammte aus Bamberg, lebte von 1526 bis 1607 und wurde, wie gesagt, 1559 in Tübingen Professor für Griechisch, Latein und Rhetorik. Seine Vorlesungen und abendlichen "Gastmähler" hatten alsbald einen so gewaltigen Zulauf, daß die Universität extra einen neuen Hörsaal speziell für Crusius errichten mußte.

Besonders Ausländer wurden von dem neuen Stern am abendländischen Gelehrtenhimmel magisch angezogen. Es wimmelte damals in Tübingen von italienischen und griechischen Studenten, sogar aus Persien und Indien kamen Hörer. Crusius unterhielt einen regen Briefwechsel mit Jeremias Tranos, dem orthodoxen Patriarchen von Konstantinopel; fast alles, was er schrieb und empfing, ist erhalten und zeugt von großer geistiger Liberalität und weit ausgreifenden Interessen.

Crusius schrieb und dozierte über Homer, Sophokles, Thukydides, über griechische und lateinische Grammatik, über das Verhältnis zwischen Türken und Griechen sowie zwischen Deutschen und Griechen. Außerdem fand er noch Zeit, eine monumentale Chronik des Schwabenlandes ("Annales suevici") anzufertigen, die 1733 auch ins Deutsche übersetzt wurde und heute noch als verläßliche Auskunftei für die Frühgeschichte Baden-Württembergs gilt. Sein Fleiß und sein Lerneifer noch im hohen Greisenalter waren sprichwörtlich.

Ein dickes Konvolut ist überliefert, das ausschließlich aus griechischen Übersetzungen besteht, welche Crusius von den sonntäglichen Predigten diverser Pfarrer in der Jakobuskirche angefertigt hat. Er ging als guter Lutheraner regelmäßig in die Kirche, beließ es aber nicht beim Beten und ergebenen Zuhören, sondern wurde während der Predigt seinerseits aktiv, schrieb mit und übersetzte dabei sofort in sein geliebtes Griechisch. Zu Hause feilte er dann noch an den Texten und übertrug sie in Schönschrift, "um zu üben", wie er sagte.

Martinus Crusius wird - speziell von einigen französischen Germanisten - dafür verantwortlich gemacht, daß Deutschland bei der Rezeption des antiken Erbes einen "fragwürdigen", vom westlichen Stil abweichenden "Sonderweg" eingeschlagen habe. Während Angelsachsen und Romanen die griechische Kultur ab der Renaissance immer unter prononciert lateinischem Blickwinkel wahrnahmen, hätten die Deutschen unter dem Einfluß von Crusius "direkt zu den Griechen durchgeschaltet". Athen pur also statt Athen plus Rom. Athenische Dialektik und Spinnerei statt praktischem römischen Sinn und romanischer Klarheit.

Darüber läßt sich natürlich streiten. Einigkeit besteht aber, daß Crusius tatsächlich der erste entschiedene "Philhellene" in der neuzeitlichen europäischen Geistesgeschichte gewesen ist. Sein Buch über Griechen und Deutsche ("Germano-Gracia") spricht eine deutliche Sprache. Wie alle gelehrten Humanisten der Renaissance benutzte Crusius das Latein zur Verständigung, seine Liebe und Leidenschaft jedoch galten dem Griechischen, und es mag durchaus sein, daß er mit dieser Einstellung stark auf die Spezifik der deutschen Klassik des 18. und 19. Jahrhunderts einwirkte.

In einer anderen Hinsicht freilich war sein Einfluß noch größer und ausgebreiteter. Crusius war - ohne Übertreibung läßt sich das sagen - der Erfinder des modernen Tagebuchs, zumindest im Abendland. Vorher hatte es "Chroniken" gegeben, von Mönchen und Staatssekretären verfaßt und strikt überindividuell gehalten, bei den Bauern und Kaufleuten gab es sogenannte "Merkbücher" für den praktischen Arbeitsgebrauch. Jene lässige Mischung indes aus privaten Bekenntnissen und eiligen Werkskizzen, Erinnerungsfetzen und tastenden Vornahmen, Selbstanalysen und aktuellen Lageanalysen - sie erscheint erstmals in den "Diarien" des Martin Krause alias Martinus Crusius. Der Mann war ein Wegeleger von epochaler Durchschlagskraft.

Alles, was man auch aus neuesten, angeblich intimen, früher oder später aber doch zur Veröffentlichung bestimmten Tagebüchern der Moderne kennt, erscheint bereits in den Krauseschen Diarien des 16. Jahrhunderts. Es gibt Wehklagen über Körperbeschwerden, maliziöse Kurzporträts von Kollegen und Konkurrenten, Erinnerungshilfen, Bemerkungen über Lesefrüchte, Gespräche, aktuelle politische oder kulturelle Vorgänge. Und das meiste ist kraftvoll und farbenreich geschrieben, verdichtet sich streckenweise zu einem einzigartigen Porträt der Zeit.

Schade nur, daß eben alles auf Latein dasteht. Pankraz hat ja bereits früher einmal, anläßlich einer Betrachtung über den "deutschen Shakespeare" Nicodemus Frischlin, den Verdacht ausgesprochen, daß das zähe Festhalten unserer deutschen Humanisten am Latein der deutschen Literatur sehr geschadet und sie lange ins Hintertreffen gebracht hat. Während in Italien oder in England längst die Volkssprache zur Hochsprache aufgerückt war und herrliche Früchte zeitigte, parlierten unsere deutschen Geistesgrößen immer noch in Latein. Ziemliches Verhängnis!

Sie haben sich damit übrigens auch selber sehr geschadet, wie wiederum der Fall Crusius eindrucksvoll zeigt. Die Erinnerung an sie ist faktisch ausgelöscht, ihre oft prächtigen Werke interessieren nicht einmal mehr die Fachleute. Wenigstens letzteres sollte man ändern.


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