© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/07 11. Mai 2007

Die Toten sind immer noch ungezählt
Die Erforschung der "Speziallager" in der sowjetischen Besatzungszone gründet auf dünner Aktenlage / Opferzahlen sind umstritten
Horst G. Keferstein

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden von der Sowjetunion auf deutschem Boden in alten Konzentrationslagern, Zuchthäusern und Gefängnissen zehn Straflager eingerichtet, in denen eine bis heute unbekannte Anzahl von Menschen an Unterernährung, Krankheiten und Erschießungen umgekommen ist.

In seinem Abschlußbericht stellt der für alle Lager zuständige sowjetische Oberst Wladimir Sokolow fest, daß in den zehn Lagern exakt 42.889 umgekommen seien. Jüngste Forschungen kommen auf insgesamt 60.377 Opfer, wobei bereits ältere deutsche Schätzungen sich zwischen 65.000 und 130.000 Lagertoten bewegen. Die gegenwärtige offizielle Forschung beruft sich jedoch immer wieder - und immer noch - ausschließlich auf sowjetische Akten und russische Archive, denen sie ihre Opferzahlen entnehmen konnte. Die dabei produzierten Fehler und Widersprüche sind dann Inhalt von Klärungsversuchen, mit denen sich betroffene Zeitzeugen auseinanderzusetzen haben.

Für das Sonderlager Nr. 4 zum Beispiel werden in einer 1997 veröffentlichten Broschüre folgende Daten aufgezählt. Danach wären in der Zeit mit der höchsten Sterblichkeitsquote, Mai 1945 bis Ende 1947 - das sind 925 Tage -, im Lager Nr. 4 insgesamt 2.770 Häftlinge umgekommen (drei Tote täglich). Im Jahre 2004 wurde schließlich das Bautzener Totenbuch herausgegeben. Seit Jahren bekannte, ihrer Unvollständigkeit wegen aber niemals als absolutes Ergebnis akzeptierte Opferlisten wurden darin plötzlich als Forschungsergebnisse deklariert.

Offizielles Totenbuch stützt sich auf sowjetische Quellen

Das Totenbuch enthält die Namen von 3.086 Häftlingen, die in der Zeit vom Mai 1945 bis 1956 im Lager Nr. 4 unter den Sowjets und nachfolgend unter dem DDR-Regime starben. Wenn wir aus der Zahl von 2.823 Toten, das ist der Anteil der unter den Sowjets bis 1950 gestorbenen Häftlinge, die Opfer der ersten 925 Tage herausnehmen, ergibt das 1.893 gestorbene Häftlinge (zwei Tote täglich). Überlebende, noch von den Sowjets verurteilte Alt-Häftlinge, widersprechen den genannten Opferzahlen und dem Versuch, die Geschichte des Sonderlagers Nr. 4 mit falschen Daten der Endgültigkeit, dem Abschluß zuzuführen. Die Reaktion der Totenbuch-Herausgeber bestand nach langem Schriftwechsel in der Zusage, dem Inhalt des Buches einen Passus hinzuzufügen, wonach die Opferzahl relativiert und eine Korrektur nach oben offen gehalten werden sollte. Eine weiter bestehende Differenz zwischen betroffenen Zeitzeugen und gegenwärtigen Historikern resultiert aus der unterschiedlichen Gewichtung des Sterbens in den Konzentrationslagern unter den Nationalsozialisten und den Kommunisten. So ist man heute lieber bereit, der Geschichtsschreibung einige tausend Tote vorzuenthalten, weil deren Namen ihrer Masse wegen nicht registriert werden konnten oder durften. Von Zeitzeugen aus der Erinnerung eingebrachte Opferzahlen sind nach Ansicht besagter Wissenschaftler ohne Beweiskraft und damit bedeutungslos.

Der Autor dieser Zeilen, 1948 als Jugendlicher von den Sowjets eingesperrt und zu 25 Jahren Straflager verurteilt, verbrachte acht Jahre im Sonderlager 4/ Bautzen 1. Nach der Tuberkulose-Erkrankung erfolgte eine fast fünfjährige Unterbringung im Tbc-Haus 111 als Patient, Pfleger und Arzthelfer. In Gesprächen mit Zeitzeugen, mit Überlebenden des Tbc-Bereiches stabilisierte sich sehr bald die Ansicht, daß die Gesamtzahl der im Totenbuch genannten Lagertoten, wie auch die Tages-Sterbequoten, mit der Realität nichts zu tun haben. Verdeutlicht wird dies durch die statistische Aufgliederung der angeblich nach der russischen Aktenlage festgelegten Opferzahlen. Die im Totenbuch sorgfältig aufgelisteten 2.823 Toten, die in den 1.719 Tagen unter den Sowjets umkamen, ermöglichen die Offenlegung der Jahres- und Tagessterbequoten:

• 31. Mai - 31. Dezember 1945 gab es in 214 Tagen 257 Tote (täglich 1,2 Tote)
• 1946 gab es 760 Tote (täglich 2 Tote)
• 1947 gab es 876 Tote (täglich 2,4 Tote)
• 1948 gab es 671 Tote (täglich 1,8 Tote)
• 1949 gab es 240 Tote (täglich 0,6 Tote)
• 1. Januar - 15. Februar 1950 gab es in 45 Tagen 19 Tote (täglich 0,4 Tote)

Insgesamt ergeben dieses Zahlen 2.823 tote Häftlinge. Die sich daraus ergebende Durchschnittszahl von 1,5 Tagestoten findet unter überlebenden Zeitzeugen keinerlei Glaubwürdigkeit. In anderen "Speziallagern" ergaben anders als in Bautzen die aus Rußland eingebrachten Unterlagen weitgehende Übereinstimmung mit eigenen Erkenntnissen aus Zeitzeugen-Aussagen, nur durch Schreibweise und Übersetzungsfehler entstanden kleinere Differenzen.

Die Bewertung der aus sowjetischen Akten entnommenen Opferlisten wird durch den in einer aktuellen Broschüre der Sächsischen Gedenkstätten zitierten sowjetischen Befehl Nr. 2317/3 vom 26. Juli 1948 in der Glaubwürdigkeit erschüttert. Darin wurde die Leitung des Lagers Nr. 4 angewiesen, eine Kommission zu bilden, die dafür zu sorgen hatte, die Lagerakten über die Tätigkeit des Lagers in den Jahren 1945 und 1946 zu vernichten. Es ging offenbar darum, unangenehme Akten und Tagesjournale, die Aussagen zur hohen Sterblichkeit beinhalteten, verschwinden zu lassen. Naheliegend ist auch, daß die Aufzeichnungen von etwaigen Erschießungen aus der Welt geschafft werden sollten. Angeregt durch die Unzulänglichkeiten des offiziellen Totenbuches, aber auch durch mangelnden wissenschaftlichen Eifer vieler Opferverbände ist bisher vieles zur Aufarbeitung der Geschichte des Sonderlager Nr. 4 unter dem kommunistischem Regime auf privater Basis erfolgt.

In qualvoller Enge waren 5.000 bis 7.000 Häftlinge, zu denen Jugendliche und Greise zählten, in Sälen und Zellen untergebracht. Der Hunger und das Fehlen jeglicher Hygiene begünstigte die Verbreitung infektiöser Erkrankungen wie Tuberkulose. Schließlich führte der Mangel bzw. das gänzliche Fehlen von Medikamenten zum Massensterben. Schriftliche Aussagen von Bautzen-Häftlingen, die schon 1945 und 1946 als Jugendliche eingeliefert worden waren, bezeugen diese Schilderungen ebenso wie die Aussage des damaligen Stationsarztes Joachim Haager im Deutsches Ärzteblatt (Heft 41, 9. Oktober 1992), von anderen Ärzten im gleichen Organ bekräftigt (Heft 47, 20. November 1992). Schließlich gibt es die Aussagen und Berichte des Unterzeichners zur Sterblichkeit im Tbc. Bereich/Sonderlager Nr. 4/Bautzen 1. Alle diese Aussagen, aus denen hervorgeht, daß im Lager Nr. 4 in den 1.719 Tagen unter sowjetischer Verwaltung täglich durchschnittlich zehn Häftlinge starben, finden durch die "SPD Sopade Denkschrift 55" mit dem Bericht des damaligen Lager-Oberarztes Paul Hoffmann eine Bestätigung. Danach sind im Sonderlager Nr. 4 unter den Sowjets annähernd 17.000 Menschen umgekommen. "In Bautzen starben 1946 bis 1947 täglich dreißig bis vierzig Insassen. Allein in den Innenbaracken der Strafvollzugsanstalt Bautzen 1, die mit 400 schwerkranken Tuberkulösen überbelegt waren, starben beispielsweise 1947 an einem Tage 14 vorwiegend jugendliche Tuberkulöse. Aussagen, die zum Teil dem Beerdigungskommando entstammen, das wegen dieser Kenntnis in die Sowjetunion deportiert und zum Schweigen gebracht wurde."

Tausende von Einschüssen in Brusthöhe im Mauerwerk

Im neuerschienenen Buch "Zwischen Bautzen und Workuta" wird der von Häftlingen verfaßte "1. Bautzenbrief" veröffentlicht. Die Rede ist von 16.000 18.000 im Speziallager Nr. 4 umgekommenen Häftlingen, was der Bautzen-Häftling Jochen Stern in seinem Buch über Bautzen 1 schon 1976 feststellt. Nur beiläufig erscheint im Totenbuch die Bemerkung, daß es im Sonderlager Nr. 4 Erschießungen gegeben habe, denen siebzig Häftlinge zum Opfer fielen. Die Namen der Toten und ihre Urteile waren den Herausgebern offenbar aber nicht bekannt. In der Vielzahl der über Bautzen 1 geschriebenen Bücher sind Details der Hinrichtungen im Haus IV jedenfalls nicht beschrieben worden. Dies gilt es nun nicht nur nachzuholen, die längst fälligen Untersuchungen wurden jetzt eingeleitet.

Damals, Mitte 1949 gab es im Haus III auf der Tbc-Station einen Patienten, den man vor seiner Erkrankung, schon 1946 oder 1947, im benachbarten Haus II untergebracht hatte. Er wußte zu berichten, daß aus Häftlingstransporten, die tagsüber ankamen, allnächtlich Häftlinge mit dem Ruf der Posten "ohne Sachen" aus den Zellen geholt und hinüber zum Haus IV gebracht wurden. Dort hatte man nachts Lastkraftwagen mit laufenden Motoren um das Haus herum aufgestellt, später wurden diese dann offenbar zum Abtransport der Toten genutzt.

Lange Zeit danach - die Volkspolizei hatte die Russen abgelöst- wurde das Pflegepersonal des Tbc-Hauses aus Platzmangel zum Haus IV verlegt. Durch die Nachlässigkeit eines Volkspolizisten, der vergaß, den Keller des Haus IV wieder abzuschließen, nutzten mehrere Häftlinge die Gelegenheit, sich den Keller anzusehen. Immer mehr Zeugen wurden hinzugerufen. In allen Wänden der Kellerraume gab es in Brusthöhe Tausende von Einschüssen im Mauerwerk. Viele der Zeitzeugen versäumten es nach der Haftentlassung nicht, Verbände und Behörden entsprechend zu unterrichten.

Nach der Wende, bei einer der ersten Begehungen von Bautzen 1, besichtigte eine Gruppe die Anstalt, als einer der anwesenden Zeitzeugen die Kellerräume des Haus IV zeigen und erläutern wollte. Doch weder der Vertreter des Bautzen-Komitees noch der neue Anstaltsleiter hatten jemals die Existenz des Hauses IV vergegenwärtigt, und somit auch nicht registriert, daß dieses Haus einschließlich aller Fundamente spurlos verschwunden war. Auch dieser Vorgang wurde in Berichten niedergelegt. In den vergangenen zwei Jahren war es nicht möglich herauszufinden, wer den Abriß des massiven Hauses - wie alle anderen aus gelbem Klinker gebaut - veranlaßt und bewerkstelligt hat. Bis heute lassen sich bei den entsprechenden Behörden und Ministerien keine Akten finden, in denen festgehalten wurde, warum dieses Haus verschwinden mußte.

Die Berichte der Zeitzeugen, der Zustand der Kellerräume, die Tatsache der Aktenvernichtung und die nicht belegbaren Aussagen, daß es sich bei den Erschossenen nicht um Verurteilte, sonder ganz einfach um Verschleppte handelte, gaben den Anstoß, die russische Forschungsgruppe "Memorial" mit der Untersuchung dieser Angelegenheit zu beauftragen. Bei dieser Gelegenheit muß nach Bautzener Akten geforscht werden, die möglicherweise einer Vernichtung entgangen sind.

 

Horst G. Keferstein, geboren 1929, war von 1948 bis 1956 Häftling in Bautzen und befaßt sich seit mehreren Jahren mit der historischen Aufarbeitung der sowjetischen "Speziallager".

Foto: "Speziallager Nr. 4" in Bautzen (1945-1950), danach DDR-Haftanstalt (umgangssprachlich auch "Gelbes Elend"), Foto vor 1939: An Unterernährung, Krankheiten und Erschießungen ist eine bis heute unbekannte Anzahl von Menschen umgekommen


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