© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/07 18. Mai 2007

Pankraz,
Peter Stein und die prosaischen Lyriker

Pankraz freut sich auf die Wallenstein-Inszenierung von Peter Stein am Samstag in Berlin, mit Klaus Maria Brandauer in der Titelrolle. Fast zehn Stunden hintereinander weg Schillers Jamben, Wort für Wort und Vers für Vers genauso gesprochen, wie sie der Autor gedichtet und aufgeschrieben hat. Ein Fest der Prosodie steht allen Ankündigungen zufolge ins Haus, eine Feier des Rhythmus und der Metrik, die hoffentlich Eindruck machen und auch Lyriker in Nachdenklichkeit versetzen wird.

Prosodie heißt wörtlich "das Hinzugesungene". Sie steht verbindend in der Mitte zwischen einfacher, rein logischer Sprache und "pfingstlichem", von innen angefeuertem und wild dahinorgelndem Sprechen, das immer in eine Art pompösen Gesang umzuschlagen droht. Die Prosodie ist grundsätzlich auf der Seite der schlichten, genauen Sprache, aber es ist ihr darum zu tun, dieser Sprache zusätzliche musikalische und tänzerische Akzente aufzusetzen, ihr eine Aura zu verleihen und sie dadurch kostbar zu machen.

Spontane, "direkt aus dem Herzen kommende" Pfingstlerei kann keine Aura aufbauen, höchstens, in Glücksfällen, einen Heiligenschein. Auratisches, über den Anlaß hinaus bemerkenswertes Sprechen bedarf der Verabredung; Regeln müssen her für Betonungen und Lautstärken, Hebungen und Senkungen, Silbenzahlen und Gleichklänge. Und eben das liefert die Prosodie. Sie legt den Sprechenden gewissermaßen ein zweites Notenblatt aufs Pult, zusätzlich zur Logik die Ästhetik, zusätzlich zu den Bedeutungen die Streicheleinheiten.

An sich, sollte man meinen, müßten sämtliche Lyriker ohne Wenn und Aber Anhänger der Prosodie sein. Sie ist ja ihr ganz spezielles Arbeitsgerät, ihr tägliches Brot, ihr Stammgeschäft. Doch wie sieht die Wirklichkeit aus? Faktisch kein einziger "moderner" Lyriker hält sich an Prosodie, abgesehen von einigen Spaßvögeln und selbsternannten Aufklärern, die die prosodischen Regeln handhaben, um satirische (oder auch pornographische) Effekte zu erzielen.

Die Prosodie ist zum allgemein verachteten Aschenputtel der Lyriker geworden, geeignet nur noch für Arbeiten, wie sie die allertrübseligsten Rapper und die allerdümmlichsten Grand-Slam-Teilnehmer abliefern. Liest man eines der Produkte aus der Feder anspruchsvoller, in den Kulturzeitschriften erscheinender Poeten (Pankraz nennt keine Namen oder Einzelbeispiele, denn alle machen es so), so findet man nicht die Spur mehr von Rhythmus und Metrik, ja, man merkt schnell, daß die Produzenten sogar eifrig darum bemüht sind, jegliche Erinnerung an Jamben, Trochäen usw. brutalstmöglich zu ersticken.

Man muß sich solch ein Gedicht nur einmal im stillen Kämmerlein sorgfältig und laut vorlesen. Schon nach der zweiten Zeile kommt man ins Stolpern, registriert, daß hier nichts weiter geboten wird als Prosa, vielleicht etwas herausgehoben durch überlegte Wortwahl und ungewöhnliche Bildassoziationen, aber sonst durchaus gewöhnliche "Fußgängersprache" (lingua pedestris), wie schon Horaz einst über die Hervorbringungen damaliger Kollegen spottete.

Geht man ins Literaturhaus und hört sich eine Lesung des besagten Lyrikers an, so begeg-net man in der Regel einem bebrillten Herrn, der mit größter Sachlichkeit, geradezu computerhaft, seine Sachen herunterliest und sich wohl nur geschmeichelt fühlte, würde man ihm fehlenden Rhythmus oder mangelnde Dynamik des Gedichtflusses vorwerfen. Für Rhythmus und Dynamik sorgt allenfalls ein beisitzender Saxophonist oder eine ganze kleine Kapelle im Hintergrund, die die Lesung "untermalt" wie früher der Mann am Klavier das noch stumme Zappelkino.

Nicht besser verhält es sich mit dem gedruckten Text. Das Schriftbild wirkt zwar meistens äußerst rhythmisch, es werden offenbar wirklich Verse und keine Durchlaufprosa geboten. Aber bei der Lektüre sieht man, daß das nichts als Vorspieglung falscher Tatsachen ist, Verbeugung vor dem Geist des Genres, das man zu bedienen glaubt. Geboten wird nichts als Prosa, eine Prosa freilich, die der Poet an vielen Stellen abrupt gebrochen und auf verschiedene Zeilen verteilt hat, so daß oft engste, dabei lediglich grammatische, sonst nichts bedeutende Zusammenhänge auseinandergerissen werden.

Offenbar soll der Leser etwas lernen. Er soll sich fragen: "Was will uns der Künstler damit sagen?" Lyrik als Paukstunde - soweit ist es mittlerweile gekommen. Im Grunde ist das ein riesiger Skandal, eine kulturelle Verarmung epochalen Ausmaßes. Eines der allerersten Momente der Menschwerdung, das uns von Anbeginn an getreulich durch die Jahrtausende begleitete, wird ruchlos den Bach hinuntergeschickt: die poetische Feier des Geschenks der Sprache durch ihre rhythmisch-metrische Überhöhung, durch ihre Rückbindung an Musik und Tanz, ohne daß sie dabei ihren logischen, benennenden und instrumentierenden Geist aufgeben muß. Es ist zum Weinen.

Und es ist auch zum Lachen. Scheinbar setzen sich die Lyriker mit ihren zerhackten Schriftbildern und ihrem holprigen, die Prosodie bewußt ignorierenden Vortrag vornehm von den Bierzelten und den Klatschorgien im Fernsehen ab, wo ungeniert und gründlich wie nie rhythmisiert und sogar gereimt wird. Aber bei Lichte betrachtet sind sie keinesfalls vornehm und nicht einmal mutig. Sie ziehen nur den Schwanz ein, räumen widerstandlos das Feld, das doch wie kein anderes das ihrige ist und das zu behaupten und auszubauen sie verpflichtet wären. Komödie in der Tragödie.

Kommt aber jetzt vielleicht Korrektur und Reconquista, nicht aus der Lyrik, sondern aus dem - an sich doch seinerseits arg heruntergekommenen - Theater? Die Geschichte macht manchmal solche Scherze. Wenn Pankraz richtig zugehört hat, ist das Unternehmen "Stein meets Wallenstein" ausgesprochen ambitiös. Nicht nur Schiller soll rehabilitiert werden, sondern mit ihm der Jambus und das herausgehobene Sprechen überhaupt. Ein Hoffnungsschimmer in finsterer Nacht. Und wie dichtet Schiller? "Nacht muß es sein, wo Friedlands Sterne strahlen".


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