© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/07 01. Juni 2007

Vietnam war überall
Wie alles anfing: Zum Gewaltmythos der Studentenrevolte und der RAF
Bernd Rabehl

Im Verlaufe des Jahres 1967, nach dem 2. Juni, kam Daniel Cohn-Bendit aus Paris nach Berlin. Der AStA der Freien Universität verpflichtete mich, den Gast aus der französischen Metropole durch die Straßen und Befindlichkeiten der westlichen Teilstadt zu geleiten. Ich zeigte ihm die Stätten der Tumulte. Wir besuchten das überfüllte Audimax der FU, in dem sich die Studentenschaft ein politisches Mandat erstritt. Wir nahmen zum alternativen Untersuchungsausschuß Kontakt auf, der herausfinden sollte, warum die Berliner Polizei Greiftrupps eingesetzt hatte, um Rädelsführer in der Demonstration vor der Deutschen Oper aufzuspüren.

Zugleich wurde die Frage aufgeworfen, warum die westlichen Offiziere der alliierten Kommandantura eine derartige Intervention der Berliner Polizei erlaubt hatten. Ein nervöser Karl-Heinz Kurras, ein Zivilbeamter, hatte am 2. Juni in der Krummen Straße scheinbar in Notwehr den 26jährigen Studenten Benno Ohnesorg erschossen. Dieser Gewaltakt hatte die Westberliner Studenten der beiden Großuniversitäten zu Protesten und zur Solidarität bewegt. Die Linksgruppen, etwa der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS), gewannen so etwas wie einen Masseneinfluß bei den Studenten. Ihre Agitatoren bestritten die Redeschlachten in den großen Hörsälen der Universitäten.

Cohn-Bendit zeigte sich tief beeindruckt. Er war erstaunt, daß die Berliner Universitäten das Elite- mit dem Massenstudium verbunden hatten. In Paris war die Universität von Nanterre an der Peripherie der Stadt eingerichtet worden. Sie wurde allein durch die Entfernungen von den Stätten der Kultur und Politik isoliert und konnte schnell abgeriegelt werden. Die Massenstudenten kamen nach seiner Überzeugung nicht in Kontakt mit den Elitestudenten der Sorbonne in der Innenstadt. Diese waren schon deshalb reaktionär und borniert, weil sie aus den privilegierten, oberen Schichten stammten. Unruhen, Verbrüderungen und die Solidarität der Studentenschaft wie in Berlin würde es in Paris nicht geben.

Abends im Beirat des SDS, der in einer Halbruine am oberen Kurfürstendamm zusammenfand, erinnerte ihn alles an den Club der Jakobiner von 1789. Die Reden begeisterten ihn. Er war beeindruckt von Dutschke und den anderen Wortführern. West-Berlin war für ihn der Ort einer kommenden Revolution in Westeuropa. Paris schien durch die polizeiliche Besetzung und durch die sozialen Schranken den Ruf der revolutionären Hauptstadt verspielt zu haben.

Der Beirat des SDS bildete 1967 tatsächlich einen Revolutionsclub. Er tagte jeden Montag. Die Beratungen begannen gegen 18 Uhr. Um 20 Uhr waren die Räume proppenvoll. Erst gegen Mitternacht verzogen sich die letzten Redner. Hier kamen die Exponenten aus Kultur, Sozialwissenschaft, Film, Theater, Gosse und Provokation zusammen. Die Erschießung von Ohnesorg durch einen Zivilpolizisten hatte die Überzeugung gesteigert, daß West-Berlin und auch die Bundesrepublik in den Sog eines Polizei- und Besatzungsstaates gerieten.

Dutschke sammelte um sich junge Männer wie Georg von Rauch, Jan Carl Raspe, Holger Meins und andere, die darauf brannten, Widerstandszirkel zu bilden. Studenten aus Haiti, Kolumbien, Peru, Bolivien und Chile übersetzten die Thesen von Che Guevara über die zwei, drei, vielen Vietnams in der Welt für Europa und für Lateinamerika.

Die Kommunarden um Dieter Kunzelmann wagten sich nach ihrem "Ausschluß" erneut in die Räume des SDS zurück, um für eine Justizkampagne zur Freilassung von Fritz Teufel zu werben, der vor der Oper am 2. Juni als Provokateur verhaftet worden war. Horst Mahler, der neue Chef des Republikanischen Clubs, schaute vorbei und warb für ein Bündnis mit der Sozialistischen Einheitspartei Westberlin (SEW).

Im Schatten der Kommunarden drängten auch Gudrun Ensslin und Andreas Baader in das SDS-Haus, das im Parterre ein Sargmagazin und im ersten Stock den freien Geist beherbergte. Ulrike Meinhof konnte sich noch nicht entscheiden, wo sie ihre Zelte aufschlagen würde, in der Bündnisfront der SEW oder im Draufgängertum des SDS. Harun Faruchi, Thomas Mitscherlich, Rainer Werner Fassbinder, Filmemacher und Stipendiaten der Film- und Fernsehhochschule, suchten Motive für ihre Abschlußarbeiten, beobachteten das Treiben und zeigten sich beeindruckt. Schwarze GIs in Zivil ließen sich für Augenblicke sehen. Sie trugen die "Faust" der Black Panthers. Irgendwo lümmelten die Jungs von den Diensten, um irgendeine Parole aufzufangen. Die Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) der DDR war offiziell über Walter Barthel als die Redaktion des Extradienstes vertreten.

Diese Bildergeschichten über die späteren Exponenten der Gewalt veranlassen heute Historiker, etwa Wolfgang Kraushaar, eine Linie von Rudi Dutschke zu Christian Klar zu ziehen. Die antifaschistische These läuft auf die Absurdität zu, daß die Kinder der Kämpfer von Stalingrad den verlorenen Krieg der Väter gegen die Sowjetunion und gegen die USA im Demonstrations- und Partisanenkrieg nachträglich gewinnen wollten. Es gab sicherlich in diesen Versammlungen die Söhne und Töchter höherer NS-Funktionäre. Diese Abstammungen hatten für die Revolte keine Bedeutung. Die Gewalt wurde durch die Polizei- und Sicherheitsorgane in die linke Studentenschaft getragen. Der Krieg in Vietnam und die "Blitzkriege" in Nahost signalisierten tagtäglich, daß der "ewige Frieden" in Europa den Gewaltansprüchen der Großmächte geopfert werden konnte. Die Rassendiskriminierung in der US-Armee war keine Erfindung linker Studenten. Die Realität der Bürgerkriegsfronten in Lateinamerika entstammte nicht ihrer Inspiration. Die Gewaltphantasien der Sicherheitsdienste fanden ihren Ausdruck in den Dienstanweisungen der Chefs, in Zentraleuropa Ruhe zu bewahren und alle Störer aufzuspüren und einzugrenzen.

Dutschke artikulierte zusammen mit dem Adorno-Schüler Hans-Jürgen Krahl im September 1967 in einem Grundsatzreferat vor dem Bundes-SDS über die "Organisationsfrage" das Problem der Gewalt. Sie diskutierten den Zustand des Rechtsstaates, der über illegale Polizeieinsätze, Besatzungsstatut und die Notstandsgesetzgebung in den Ausnahmestaat umkippen konnte. Gegen diese Gewalt konnte sich eine Opposition nicht behaupten. Es wäre der blanke Irrsinn, die Opposition nach dem Vorbild des Gewaltapparates von Staat und Besatzungsmächten auszurichten. Jeder illegale Widerstand würde von dieser Übermacht von Technik, Konspiration und Berufserfahrung zermalmt werden. Ein derartiger Widerstand besaß langfristig gar nicht die Mittel, sich gegen diesen Apparat zu behaupten.

Für Dutschke und Krahl wurde es wichtig, den Schutz des Rechtsstaates gegen den Ausnahmestaat abzuklären. Sie umschrieben diese Rechtsposition umständlich als die "Dialektik von Legalität und Illegalität". Der illegale Staat, der in Gestalt des Greifers Kurras und seiner Auftraggeber sichtbar wurde, sollte durch die legale Opposition gezwungen werden, über Untersuchungsausschüsse und Parlamentsanfragen Farbe zu bekennen. Demonstrationen und Öffentlichkeit sollten die illegalen Grenzziehungen des Ausnahmestaates einreißen.

Dutschke lehnte die Militarisierung ab

Sie diskutierten in diesem Text den Charakter einer zukünftigen Oppositionsbewegung. Sie sollte nicht als Parteiformation organisiert werden. Sie wurde als eine Szene von Theatergruppen, Diskussionskreisen, Kommunen, Wohngemeinschaften, Seminaren, Clubs, Basisgruppen gedacht, die nicht einfach aufgelöst und verboten werden konnten. Sie fanden sich jeweils in Kampagnen und Demonstrationen zusammen und zeigten hier ihre Stärke. Eine Radikalopposition sollte sich nach diesen Überlegungen allen Parteistrukturen entwinden. Sie sollte sich zugleich davor hüten, sich in die vorherrschende Machtpolitik einbinden zu lassen. Alle Ansätze von Oligarchienbildung sollten unterlaufen werden.

Die Theorie der "temporären Führer" wurde erfunden. Die Visionen eines "langen Marsches durch die Institutionen" sollte die aufgewühlten Studenten veranlassen, in die Verwaltungen und Institutionen der Bildung hineinzugehen, um sie zu verändern, statt dem gefährlichen Weg und den Sackgassen des revolutionären Widerstands zu folgen. Das Charisma der begnadeten Agitatoren und Redner wurde im Sinne von Sigmund Freud als Rückkehr in die "Urhorde" oder in einen frühkindlichen Zustand der väterlichen Hypnose und Einflußnahme auf die Kinder empfunden. Ein derartiges Charisma sollte durch Aufklärung aufgelöst werden. Illegale Partisaneneinheiten galten als Schulen der Autorität und des Gehorsams und wurden nicht geduldet. Dutschke lehnte auf dem Vietnamkongreß im Februar 1968 die "Militarisierung" der Opposition ab. Er war nicht bereit, eine illegale Kampffront zu unterstützen. Ihm blieb bewußt, daß die Illegalisierung der Opposition deren Freiheitswillen zerstören würde.

Das Attentat auf Dutschke im April 1968 und der "Unfalltod" von Krahl 1970 bedeuteten eine Kehrtwendung in diesem Selbstverständnis von Opposition. Erst jetzt kulminierten die Widerstandszirkel zu illegalen Kampfgruppen. Aus ihnen entstanden die RAF und die "Bewegung 2. Juni". Die unzähligen ML-Gruppen und Parteien fanden ihren Ausgangspunkt bei den unterschiedlichen "Avantgarden" an den Universitäten.

Vor allem die östlichen Dienste unterstützten diese strukturelle Veränderung der Opposition im Westen, denn der Freiheitswille hier hatte Anklang in Polen, Ungarn, DDR und in der Tschechoslowakei gefunden. Die entstehenden Partisanengruppen, primär die RAF, operierten deshalb im Kontext des Kalten Krieges und fanden die Unterstützung der Gegner der Bundesrepublik.

Die Militanten verloren den Geist der Freiheit

Ein geheimer, militärischer Krieg wurde gegen die Repräsentanten der politischen Klasse dieser Republik geführt. Alle Kämpfer und Akteure kamen aus dem SDS oder den unterschiedlichen Zentren der neuen Opposition. Allerdings hatten sie die Prinzipien der Radikalopposition aufgegeben. Sie waren zurückgekehrt in ein Bürgerkriegsszenario und in das Ordnungssystem der russischen Revolution und des Zweiten Weltkrieges. Sie verloren den Geist der Freiheit.

 

Prof. Dr. Bernd Rabehl gehörte bis 1968 dem Bundesvorstand des SDS an und war engster Vertrauter Rudi Dutschkes.

Foto: Rudi Dutschke (l.) am Mikrofon während einer Protestveranstaltung am 3. Juni 1967 in der Freien Universität Berlin, einen Tag nach der Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg: Die Gewalt wurde von Polizei- und Sicherheitsorganen in die Studentenschaft getragen


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