© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/07 01. Juni 2007

Vor der Wahrheit den Blick verschlossen
Altbundespräsident Richard von Weizsäcker und seine bis heute unaufgeklärte Rolle in den letzten Kriegstagen 1945
Doris Neujahr

Der skandalisierten Trauerrede Günther Oettingers wurde vielfach (Nürnberger Nachrichten, taz, Süddeutsche, Tagesspiegel usw.) die "berühmte Rede" Richard von Weizsäckers vom 8. Mai 1985 entgegengestellt. Der Altbundespräsident habe damals "der Wahrheit ins Auge" gesehen. Die das schreiben, ahnen nicht, welchen fatalen Zusammenhang sie herstellen: zwischen Filbinger, angeblich ein "sadistischer Nazi" (Rolf Hochhuth), der Deserteure ans Messer lieferte, und Weizsäcker, gegen den seit Jahrzehnten der Vorwurf im Raum steht, ein Deserteur zu sein. Weizsäcker bestreitet das vehement, ohne zu überzeugen.

Sein Abwehrreflex stimmt nachdenklich: Schließlich haben Schriftsteller wie Alfred Andersch oder Erich Loest ihre Fahnenflucht thematisiert und dafür literarischen Ruhm geerntet. Dank der von Weizsäcker mitbetriebenen Geschichtspolitik hat die Umwertung der Werte seitdem die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit ergriffen. Der mit Weizsäcker persönlich bekannte Historiker Peter Steinbach (Spezialgebiet: deutscher Widerstand) meint: "Desertion war kein Ausdruck von Feigheit, sondern die Folge von Einsicht. (...) Desertion verlangte Konsequenz und Mut. Wer Konsequenz und Mut beweist, ist nicht mehr nur Opfer, sondern er wird zum Täter, zum Täter des Widerspruchs und der Auflehnung, des Widerstands." Warum weist Weizsäcker dann die angetragene Ehre zurück? Die Antwort auf die Frage gibt den Blick frei auf eine zusätzliche Dimension der Verlogenheit, die die Filbinger-Oettinger-Kampagne von Anfang an begleitet hat.

"Selbstdemobilisierung" und "schneidiger Einsatz"

Zunächst die historischen Fakten: Weizsäcker gehörte dem Potsdamer Infanterieregiment 9 an, das wegen seiner Exklusivität "Graf Neun" genannt wurde, zuletzt als Hauptmann. Nach großen Verlusten vor Leningrad wurde es als Grenadierregiment 9 neu aufgestellt und stand 1945 in Abwehrkämpfen in Ostpreußen.

1984, kurz nach der Präsidentenwahl, erschien das Buch "Richard von Weizsäcker" der Journalisten Werner Filmer und Heribert Schwan. Dort war über sein persönliches Kriegsende zu lesen: "Richard von Weizsäcker, der letzte Regimentsadjutant des Grenadierregiments 9, konnte gerettet werden. Anfang April 1945 wurde er über das Frische Haff auf die Nehrung transportiert, dann von Danzig nach Kopenhagen. In letzter Minute entging er dem Schicksal seiner übrigen Regimentskameraden, denen nur die Gefangenschaft blieb. Von Kopenhagen aus gelangte er zu seinem Ersatztruppenteil nach Potsdam. Kurze Zeit später demobilisierte er sich selbst und setzte sich nach Lindau an den Bodensee ab. Dort erlebte er am 8. Mai die bedingungslose Kapitulation."

Zwei Fehler bzw. Merkwürdigkeiten lassen aufhorchen: Erstens war der Abtransport über Danzig im April 1945 unmöglich, weil die Stadt sich bereits in der Hand der Sowjets befand. Vor allem aber ist unklar, wie Weizsäcker sich selber "demobilisieren" konnte. Es handelt sich um die saloppe Umschreibung einer Fahnenflucht. So wurde das vielfach auch verstanden, was zu Dementis und Erklärungsversuchen des Bundespräsidenten führte. Die Polemiken bilden zusammen mit den Weizsäcker-Hagiographien bereits eine kleine Bibliothek. Der Kürze halber werden nachfolgend nur die Namen der Autoren und das Erscheinungsjahr ihrer Bücher genannt.

Zum Ostpreußen-Komplex: Die unmögliche Danzig-Version mag eine Nachlässigkeit sein. Bei einem Mann, der auf präzise Erinnerungen und Formulierungen Wert legt, verwundert sie allerdings und könnte auf einer Freudschen Fehlleistung beruhen, die auf die Brüchigkeit des Ganzen verweist. Auf Nachfrage korrigierte Weizsäcker sich am 14. April 1986 brieflich: "Ich wurde im April 1945 aus Ostpreußen mit einer leichten Verwundung zu meinem Ersatztruppenteil nach Potsdam evakuiert" (Faksimile in: Randow, 1986).

Diese Fassung ist in fast alle späteren Darstellungen (z. B. Wein, 1988; Steffen, 1991) eingegangen. In Weizsäckers Autobiographie "Vier Zeiten" (1997; JF 43/97) heißt es: "In der ersten Aprilhälfte wurde ich über Königsberg nach Potsdam abtransportiert." Doch nichts über die genauen Umstände, die doch dramatisch und mitteilenswert gewesen sein müssen. Warum diese Unschärfe?

Ein Zeitzeuge, der 1945 in Ostpreußen schwerverwundet in russische Gefangenschaft geriet, "hörte hier sehr bald das Gemurre der Wochen später ebenfalls gefangenen 'Graf-Neun-Landser' über den Abgang ihrer adligen Offiziere. Die mit dem 'von' im Zunamen desertierten; unverwundet suchten manche von ihnen per Lazarettschiff das Weite über die Ostsee" (Kardel, 1991). Weizsäcker konnte freilich mit dem Gemurre nicht gemeint sein, er war ja verwundet. Die Verwundung sollte sich noch ein zweites Mal für ihn als ein Glück erweisen, denn in Potsdam wurde er - laut Brief vom 14. April 1986 - "wegen meiner Verletzung nach Hause, nach Lindau am Bodensee, geschickt".

Wann zog er sie sich zu? Am 1. April 1945 wurde Weizsäcker für die Nennung im Ehrenblatt des Heeres vorgeschlagen (Faksimile bei Randow): Demnach riß er "die letzten Männer seines R(egiments) durch sein leuchtendes Beispiel und notfalls durch härteste Maßnahmen immer weiter vor. (...) Durch diesen todesmutigen Einsatz W.(s), den er auf seine Männer übertrug, wurden Tausende gerettet. Sein freiwilliger beispielhaft schneidiger Einsatz ist besonders hoch zu bewerten, da unter den damaligen Kampfverhältnissen die Masse der betreffenden Soldaten und viele Führer zu einer kämpferischen Haltung nicht mehr die Kraft hatten." Eine Extremsituation, die voller Tragik steckt: Um Tausende zu retten, mußte er seine erschöpften Untergebenen "durch härteste Maßnahmen" zum Kampf zwingen. Was legt der Superlativ eigentliche anderes nahe als die Erschießung kampfesmüder Soldaten? Weizsäcker hat nie eine Erklärung darüber abgegeben. Das ist verständlich. Nicht nur, daß eine unwissend gemachte Nachwelt in seinem "schneidigen Einsatz" den Fanatismus eines Kriegsverlängerers, eines "Täters" also, erkennen müßte, die "härtesten Maßnahmen" würden ihn womöglich in die Nähe Hans Filbingers rücken.

Eine schwierige Situation für den Bundespräsidenten. Er verleugnete das Dokument zunächst und schrieb am 22. Juli 1987 auf eine entsprechende Anfrage: "Ich habe nie irgend jemanden ins Feuer getrieben, auch wenn dies jemand damals in einer mir unbekannten Aufzeichnung schrieb. Der Mensch ist so, wie er ist, und nicht so, wie andere ihn erscheinen lassen wollen" (zitiert bei Kardel). Doch ihr Verfasser, Rudolf von Knebel Doeberitz, ein Vorgesetzter Weizsäckers, hatte die "unbekannte Aufzeichnung" im Militärarchiv wiedergefunden und Weizsäcker zugeschickt. Am 16. Februar 1988 erreichte sie via Bild-Zeitung die Öffentlichkeit: "Weizsäcker - Todesmut am frischen Haff", lautete die Titelschlagzeile. Die "härtesten Maßnahmen" wurden hier durch drei Punkte ersetzt. Weizsäcker anerkannte das "unbekannte" Dokument, wohl weil es ihm geeignet erschien, den Fahnenflucht-Vorwurf zu entkräften. 1990 ließ er seinen Adlatus Friedbert Pflüger daraus zitieren, der aber keine näheren Erklärungen liefert. Doch nun entstand eine neue Schwierigkeit, denn von einer Verwundung war darin keine Rede. Einen Monat nach dem Bild-Bericht, in einem Brief vom 24. März 1988 (teilweise zitiert bei Salm), datierte Weizsäcker sie auf den Vortag des Kampfeinsatzes, den 26. März 1945, sie bestand in "einer Schramme". Um Schlimmeres konnte es sich schon deswegen schwerlich handeln, weil er sonst am Folgetag außerstande gewesen wäre, seinen Männern ein "leuchtendes Beispiel" zu geben. Damit entfiel logischerweise aber der Grund für den Verwundetentransport und den anschließenden Genesungsurlaub. Um die Begründungslücke zu schließen, aber ohne jeden Beleg, heißt es bei Wein und Steffen plötzlich, Weizsäcker sei am 28. März 1945 verwundet worden.

"Er fällt den Sowjets besser nicht in die Hände"

Angesichts dieses Durcheinanders, das mit jedem neuen Aufklärungsversuch größer wurde, lästerten böse Zungen (u.a. Kardel), daß der Vorschlag für das Ehrenblatt lediglich eine Gefälligkeit des Vorgesetzten und Teil des Desertionsplans war, ein "Persilschein", der die Feldgendarmerie bei einer Kontrolle beeindrucken sollte. 1994 veröffentlichte Bild-Kolumnist Maynhard Graf Nayhauß ein umfangreiches Buch über Weizsäcker und das Infanterieregiment 9. Nayhaus hatte Gespräche mit dem Präsidenten und Zeitzeugen geführt. Er datiert - wieder ohne Beleg - die "leichte" Verwundung auf den 27. März. Am 5. April 1945 sei ein Befehl eingetroffen, daß die Verwundeten sowie die Panzerspezialisten ins Reich abzuziehen sein, alle anderen sollten bei der Verteidigung Königsbergs mitwirken.

Obwohl Weizsäcker einsatzfähig war, befahl ihm Knebel-Döberitz - zu seiner eigenen Überraschung -, sich ebenfalls zurückzuziehen. "Dabei mochte sein Vorgesetzter auch gedacht haben: Mit dem Namen ist es besser, er fällt den Sowjets nicht in die Hände." In der Tat: Der Sohn des einstigen Staatssekretärs im Auswärtigen Amt, der in das Geheimprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt eingeweiht war, wäre für die Russen eine Geisel gewesen, ein unsagbarer Leidensweg hätte ihm bevorgestanden. Damit aber hat Nayhauß gleichsam nebenbei den Verwundeten-Mythos begraben: Nur das Wohlwollen des Vorgesetzten hatte Weizsäcker den Platz auf dem Transport nach Kopenhagen verschafft. Damit aber war auch das Argument des Genesungsurlaubs hinfällig, auf das er sein Dementi der Fahnenflucht aufgebaut hat. Die Flüche der zurückgebliebenen Landser galten folglich auch ihm.

Wenn der Abreisetermin 5. April 1945 zutrifft, dann dürfte Weizsäcker um den 8. oder 10. April über Kopenhagen in Potsdam eingetroffen sein. Über das Geschehen danach sind neben der Fahnenflucht-Variante drei weitere Versionen im Umlauf. Im Brief vom 14. April 1986 hatte er behauptet, "nach Hause an den Bodensee geschickt worden zu sein": "Nachdem die alliierten Truppen, in diesem Fall die Franzosen, in Lindau eingerückt waren - nicht vorher -, verwandelte ich mich dort selbst in einen Zivilisten, um nicht in Gefangenschaft zu geraten." Das "nicht vorher" ist für die Widerlegung der Desertion von Bedeutung, widerspricht jedoch der Lebenspraxis. Bei Martin Wein heißt es etwas genauer, er habe "Genesungsurlaub" bekommen und sei mit einem "Militärfahrschein" abgefahren.

Das Problem ist nur, daß eine "leichte Verwundung" (O-Ton W.) keine Handhabe für einen Genesungsurlaub bot. Warum hält er trotzdem daran fest? Der Grund liegt auf der Hand: Ein Erholungsurlaub, der in seinem Fall wahrscheinlicher gewesen wäre, dauerte maximal eine Woche, also hätte Weizsäcker sich am 21. April in Potsdam zurückmelden müssen. Ein Genesungsurlaub dagegen konnte sich über 28 Tage erstrecken. Doch war in dieser Kriegsphase auch ein Erholungsurlaub unwahrscheinlich und eine "einschneidende Urlaubssperre" (Salm) das Normale.

Pflügers Präzisierungen (1990), Weizsäcker sei am 14. April von Potsdam nach Berlin zum Anhalter Bahnhof gefahren, habe im nahegelegenen Christlichen Hospiz übernachtet, am nächsten Tag die Hauptstadt verlassen und über Dresden, Prag und München sei er schließlich nach Lindau am Bodensee gelangt, gehen an den Kernfragen vorbei. Um die Version vom Genesungsurlaub zu untermauern, zitiert er Knebel-Döberitz, der aber lediglich die Vermutung beisteuern kann, daß Weizsäcker "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" über die erforderlichen Marschpapiere verfügt habe. Ein materieller Beweis - Marschbefehl, Eintragung im Soldbuch, Militärfahrkarte, Urlaubsschein o. ä. - liegt bis heute nicht vor. Selbst für den unwahrscheinlichen Fall, daß ihm ein Urlaub gewährt worden ist, kann es sich angesichts der damaligen Umstände nur um eine persönliche Gefälligkeit gehandelt haben.

In seiner Autobiographie spart Weizsäcker die Frage gänzlich aus. In Ulrich Völkleins Weizsäcker-Buch (2004) heißt es immerhin: "Am 21. April hätte er sich in Potsdam zurückmelden müssen. Doch Weizsäcker zog es vor, sich auf dem kleinen Gehöft der Großmutter (...) zu verstecken." Für das fällige Rückkehrdatum gibt der Autor keine Quelle an. Vermutlich folgte er den kenntnisreichen Ausführungen des Juristen Karl Salm. Dennoch wiederholte Weizsäcker am 10. April 2005 in der Welt am Sonntag: Genesungsurlaub!

Verhalten hat bei Weizsäcker Gewissenbisse verursacht

Es geht nicht darum, einem damals 25jährigen zu verübeln, sich einem längst verlorenen Krieg entzogen und dadurch sein Leben gerettet zu haben. Die Abwehr des Fahnenflucht-Vorwurfs spricht allerdings dafür, daß ihm sein Verhalten Gewissenbisse verursacht und er sich im Konflikt mit einem Zeitgeist befindet, der die Desertion vorbehaltlos begrüßt. Diese Umdeutung widerspricht den Ehrbegriffen seiner Herkunftswelt und des überzeitlichen Soldatentums, denen er sich verpflichtet fühlt. Damit wäre seine Biographie - gerade auch durch ihre Brüche - geeignet, die tragischen Aporien der deutschen Soldaten zu exemplifizieren: die Konflikte zwischen Überlebenswillen und Fahneneid, zwischen der Einsicht in einen verlorenen Krieg und dem Gewissensgebot, Zivilisten die Flucht vor der Roten Armee zu ermöglichen; zwischen dem Dienst unter einem fluchtwürdigen Regime und dem Willen der Kriegsgegner, mit Hitler auch Deutschland den Garaus zu machen usw.

Anders als behauptet, hat Weizsäcker, der Vielredner und -schreiber, keinen dieser Konflikte öffentlich durchexerziert und es versäumt, den Nachgeborenen die moralische, rechtliche, historische Situation der deutschen Wehrmacht zu verdeutlichen. Den Widerspruch zwischen Fahneneid und mutmaßlicher Desertion löst er - durch einen "Genesungsurlaub". Wie kleinlich! Weil es ihm taktisch paßt, identifiziert er sich mit der schneidigen Tapferkeit, die ihm im Dokument vom 1. April 1945 zugeschrieben wird, aber die Zumutung, mit seinem Handeln, das Tausenden das Leben erhielt, Untergebene "ins Feuer" und damit in den Tod geschickt zu haben, weist er empört von sich. Dagegen erscheinen Filbinger und sogar Oettinger als Standbilder der Aufrichtigkeit.

Problematisch sind die geschichts- und staatspolitischen Folgen. Wie kann man annehmen, daß dieser notorisch unaufrichtige Egomane je in der Lage gewesen sein könnte, stellvertretend für sein Land "der Wahrheit ins Auge" zu sehen? Kein anderer Politiker hat soviel dazu beigetragen wie Weizsäcker, das Geschichtsbild der Sieger, in dem die deutsche Geschichte als eine weitgehend verbrecherische erscheint, in der Bundesrepublik zur herrschenden Ideologie zu erheben. Kann es sein, daß er sich der Siegermoral unterwirft, weil sie jene Staats- und Soldatenmoral aufhebt, die seine Desertion als verwerflich kennzeichnet?

Er hat früher als andere gespürt, woher der Wind künftig weht, und rechtzeitig die entsprechende Richtung eingeschlagen. Seine Anbiederung an den Zeitgeist mag seinen Gewissenkonflikt lindern und ihm zu Lebzeiten die Definitionshoheit über sich und die Familiengeschichte sichern, doch der 87jährige soll sich nicht täuschen: Die Furien des Zeitgeistes, die Leichenfledderer, sie warten schon auf ihren Einsatz.

Foto: Richard von Weizsäcker im Bonner Bundestag am 8. Mai 1985: Unklarheiten im Lebenslauf


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