© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/07 06. Juli 2007

Putins Teil der Wahrheit
Geopolitik: Integrität gilt mehr als Selbstbestimmung
Martin Schmidt

Die Medien pflegten vor dem G8-Gipfel in Heiligendamm jede Bemerkung Wladimir Putins auf die Goldwaage zu legen. Schließlich drohte ein Scheitern des von reichlich Getöse begleiteten Treffens. Ein wichtiges Anliegen des russischen Präsidenten erfuhr aber kaum Beachtung: seine heftige Kritik an der Kosovo-Politik von EU und USA.

Putin lehnt unter anderem den jüngsten Ahtisaari-Plan zur Unabhängigkeit des Kosovo ab. Er begründete das mit den Prinzipien des Völkerrechts, zu deren wichtigsten die Anerkennung der territorialen Integrität bestehender Staaten gehöre, sowie mit der einstimmig angenommenen UN-Resolution 1244, in der das Kosovo als integraler Bestandteil Serbiens festgeschrieben wird. Wenn der Westen wie in der Kosovo-Frage den Grundsatz des Selbstbestimmungsrechts der Völker über das Prinzip der territorialen Integrität stelle, dann müsse diese Entscheidung weltweit gelten, also auf vergleichbare Nationalitätenprobleme ebenfalls Anwendung finden.

Doch dies sei nicht der Fall, wie Putin unter Hinweis auf die Konflikte um Südossetien, Abchasien und Transnistrien betonte. Er warnt mit Blick auf Schottland, die spanischen Provinzen Katalonien und Baskenland sowie die zu Bosnien-Herzegowina gehörende Republika Srpska davor, daß "das Bestehen auf dem Recht auf Selbstbestimmung nicht nur im postsowjetischen Raum negative Prozesse in Gang setzen, sondern auch separatistische Bewegungen in Kerneuropa ermutigen könnte".

Diese Grundsatzkritik Putins paßte vielen Meinungsmachern offenbar nicht ins Bild, weshalb man sie weitgehend verschwieg. Das ist bedauerlich, nicht weil die Meinung aus Moskau ungeteilte Zustimmung verdient, sondern weil sie eine zentrale Grundsatzfrage der internationalen Beziehungen ins Blickfeld rückt: die unterschiedliche öffentliche Wahrnehmung und Bewertung von Nationalitäten- und Minderheitenproblemen. Daß die Unabhängigkeitswünsche der Albaner im Kosovo weitaus mehr Resonanz erfahren als etwa die ähnlich gelagerten Anschlußwünsche der Republika Srspka ans serbische Mutterland, ist offenkundig. Ebenso klar ist die Erklärung dieses Umstands durch die besonderen Machtinteressen der Vereinigten Staaten auf dem Balkan, denen die entgegengesetzten, geschichtlich-kulturell motivierten Interessen Rußlands gegenüberstehen. Putins Analogien zu den abtrünnigen georgischen Gebieten Abchasien und Südossetien sind dagegen irreführend, denn sie verschweigen deren faktische Abtrennung durch eine vom Kreml geförderte militärische Gewaltstrategie und die massenhafte Vertreibung der alteingesessenen Georgier. Tatsächlich handelt es sich hierbei vielmehr um typische postsowjetische (gewissermaßen anti-koloniale) Regionalkonflikte, deren Wurzeln in der Stalinschen Nationalitätenpolitik der Zwischenkriegszeit liegen und deren Strategie des Divide et impera nicht nur in Georgien alten großrussischen Machtinteressen diente.

Putin sagt bewußt nur einen Teil der Wahrheit. So verschweigt er die gegen die Kreml-Herrschaft gerichteten Freiheitsbestrebungen der Völker des Nordkaukasus und die Tatsache, daß auch der sogenannte Westen - von wenigen Ausnahmen abgesehen - noch immer dem Grundsatz der Integritätswahrung bestehender Staaten folgt und nicht dem Selbstbestimmungsprinzip. Eine ethnokulturell, historisch oder konfessionell begründete staatliche Teilung Belgiens oder der Ukraine ist von daher ebensowenig eine Option wie eine Dreiteilung des Irak oder eine den Stammesgrenzen und wirklichen Machtverhältnissen folgende Auflösung der fortbestehenden Kolonialgrenzen in Afrika. Das ethnisch heterogene Kosovo soll zwar eine eigene Staatlichkeit erhalten, doch die denkbare Abtrennung der serbisch besiedelten Region um Mitrovica ist tabu. Dabei bietet sich deren dauerhafter Anschluß ans Mutterland Serbien als Kompromißlösung zur Gesichtswahrung für Belgrad und als Vorkehrung gegen drohende künftige ethnische Säuberungen (diesmal gegen Serben) geradezu an.

Weitgehende Regionalautonomien wie in Schottland, Katalonien oder Québec werden von der sogenannten Weltöffentlichkeit nur mit Argwohn betrachtet, zumal das erklärte Fernziel der Unabhängigkeit im Raum steht. Viele andere Nationalitätenfragen bleiben schon deshalb ungelöst, weil es den unter Fremdherrschaft leidenden Volksgruppen an Machtmitteln oder Fürsprechern im Ausland fehlt. Die Südtiroler werden sich wohl auf absehbare Zeit auf eine Zugehörigkeit zu Italien einzustellen haben, weil weder das offizielle Österreich noch die Bundesrepublik Deutschland an der Unrechtsgrenze am Brenner rüttelt.

Man darf sich keine Illusionen machen: Auch in Zukunft wird der Bereich der Nationalitäten- und Minderheitenpolitik der Öffentlichkeit gegenüber weithin so dargestellt werden, wie es den Interessen der jeweils Mächtigen entspricht. Weltpolitik funktionierte noch nie anders. Immerhin können der schrankenlosen Willkür von Staaten und Staatengruppen durch das Völkerrecht und internationale Abkommen aber Schranken gesetzt werden. Und jeder einzelne vermag irreführenden Medienberichten einen Teil ihrer Wirksamkeit zu nehmen, indem er sich durch umfassende eigene Information um den Blick hinter die Kulissen bemüht.


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