© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/07 06. Juli 2007

Es droht der Kollaps unseres Systems
Auch wenn die Konjunktur in Deutschland momentan Entspannung verheißt, halten zwei Journalisten die Lage weiterhin für explosiv
Hans-Ulrich Pieper

Die demokratische Ordnung der Bundesrepublik ist in Gefahr - massive Fehlentscheidungen und Eigennutz in Politik und Wirtschaft beschleunigen die Erosion. Es droht der Kollaps des bundesdeutschen Systems - zu diesem Fazit kommt eine aktuelle Studie der Wirtschaftsjournalisten Vlad Georgescu und Marita Vollborn. Journalistische Schwarzmalerei, wie sie heute weithin üblich geworden ist? Keinesfalls, wie die breit angelegte Untersuchung quellenreich zeigt. Entgegen den Beteuerungen der etablierten Politiker wandelt sich gar nichts zum Guten.

Die Ära der Vollbeschäftigung ist vorbei, der sporadische Rückgang der Arbeitslosigkeit ein Trugbild: Neben den mehr als vier Millionen "Minijobbern" besitzen rund 4,1 Millionen Menschen lediglich einen befristeten Arbeitsvertrag, weitere 300.000 finden als Leiharbeiter eine vorübergehende Stelle. Die Zeit- und Leiharbeit boomen, nicht die Konjunktur - belegen die Autoren faktenreich. Gewichtet man die Arbeitslosigkeit realistisch, so wird die tatsächliche Arbeitslosenzahl auf über 7,1 Millionen beziffert. Noch im Mai 2006 zählte die Bundesagentur für Arbeit insgesamt 8,67 Millionen Leistungsempfänger. Danach waren bereits mehr als zehn Prozent der deutschen Bevölkerung auf staatliche Hilfe angewiesen. Und hier wächst ein revolutionäres Potential heran, das zuerst von Medizinern und Psychologen diagnostiziert wurde. Ihre Forschungen belegen: Arbeitslosigkeit und Armut machen nicht nur weithin krank. Sie verändern auf Dauer die Psyche der Betroffenen - "irgendwann tun sie Dinge, die sie sonst nie akzeptieren würden". Mehr als 5.500 Publikationen haben die Autoren zu diesem Gebiet entdeckt, "von denen bislang weder Medien noch die Politik berichteten". Derartiges Material zu ignorieren, scheint den Autoren "mehr als unangebracht". Denn die Studien belegen, daß das Millionenheer der Arbeitslosen die Grundlage der kommenden Unruhen bildet.

Staatliche Krisenmanager, wie die Autoren den Verfassungsschutz und das Bundesinnenministerium nennen, nehmen die Untersuchungen ernst und "halten ihre Szenarien für wahrscheinlich": Das Heer der real existierenden sieben Millionen Menschen ohne Arbeit, oder jener Arbeitnehmer mit Jobs, die lediglich ein Leben in Armut erlauben, rückt "ins Visier der Extremisten, weil die Massen den Glauben an die Demokratie verlieren, avancieren sie zum Zielobjekt der extremen Parteien".

Nachhaltigen Anschub erhält der soziale Protest durch die offenkundige Gier bundesdeutscher Eliten, wie die aneinandergereihten Skandale allein der letzten Jahre belegen. Scheibchenweise erhält das Volk Einblick in das, was hinter den Kulissen vorgetäuschter politischer Geradlinigkeit abgelaufen ist. Immer mehr Bürger fragen sich, für wen die gewählten Volksvertreter eigentlich wirklich tätig sind. So ist es auch nicht weiter verwunderlich, daß das Ansehen von Politikern und Managern seit Jahren sinkt, den Wahlaufrufen immer weniger Menschen folgen und viele den Glauben an eine rosige Zukunft Deutschlands verloren haben. Den Verfassern fällt es nicht schwer, hierfür zahlreiche überzeugende Quellen zu nennen.

Wer sind die Profiteure dieser Entwicklung? Nach Ansicht der Autoren, fern jeder Sympathien für "Rechte", gibt es "ein Comeback der NPD". Diese kann heute infolge des gescheiterten Verbotsverfahrens offen die Systemüberwindung propagieren, da ein erneutes für den Staat peinliches Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht nicht zu erwarten ist. Dabei hätten die NPD-Führer "dazugelernt". Mit einer klugen, überzeugenden Strategie sprechen sie die soziale Frage und die neuen Unter- und Mittelschichten der Gesellschaft an. Zahlreiche Freizeitangebote, Konzerte, aber auch Protestaktionen und Hartz-IV-Beratungen zielen ebenso in die Mitte der Gesellschaft wie das öffentliche Auftreten der Skinheads, die Springerstiefel und Bomberjacken längst abgelegt haben. Mehr als "zehntausend gewaltbereite Rechtsextremisten" gibt der Verfassungsschutz vor erfaßt zu haben. Die Autoren glauben, daß diese mobilisierbar sind - wenn die Zeit reif ist.

Aber auch die militante Linke hat die Zeit genutzt. Nahezu unbemerkt von der Öffentlichkeit finden seit Jahren Anschläge auf Einrichtungen des Bundes, der Länder und insbesondere der Wirtschaft statt - in den meisten Fällen gut koordiniert, perfekt geplant und zielgenau. Das Spektrum der potentiellen Aktionen ist weit. Von legalen Demonstrationen mit ausländischer Verstärkung gegen G8-Treffen oder Sozialabbau bis hin zu brennenden Warenhaus-Filialen - die radikale Linke rüstet auf und findet klammheimliche Unterstützung in Gewerkschaften, Kirchen und den linken Parteien. Laut Verfassungsschutz verüben allein linksradikale Gruppen jährlich über 1.300 Anschläge.

Anscheinend schaukeln die politischen Ränder sich auch gegenseitig hoch - dies vor dem Hintergrund eines sozialen Niedergangs und einer Entvölkerung ganzer Landstriche Deutschlands. Ob in Berlin-Marzahn, ob Hannover-Sahlkamp oder Frankfurt-Bonames: Wo einst Sozialwohnungen das Symbol staatlicher Fürsorge waren, gilt heute das Gesetz der Straße. Perspektivlosigkeit, Armut und Zukunftsangst sind eine gefährliche und explosive Mischung, und "so scheint es nur eine Frage der Zeit, bis der Funke aus den Banlieues Frankreichs auf die Vergessenen Deutschlands überspringt", formulieren die Buchautoren ihr Fazit. Wann das sein wird, wissen sie allerdings nicht.           

Marita Vollborn, Vlad Georgescu: Brennpunkt Deutschland. Warum unser Land vor einer Zeit der Revolten steht. Gustav Lübbe Verlag, Bergisch-Gladbach 2007, gebunden, 364 Seiten, 18 Euro


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