© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/07 06. Juli 2007

Japans Krieg gegen seinen schwächsten Gegner
Der 1937 begonnene japanisch-chinesische Krieg endete erst im August 1945 / Die Opferzahl wird auf über zwanzig Millionen geschätzt
Stefan Scheil

Es ist oft darüber gestritten worden, ob und auf welche Weise die weltweiten Auseinandersetzungen, die zwischen 1932 und 1945 stattfanden, sich als "Zweiter Weltkrieg" verstehen lassen. In Deutschland und in der angelsächsischen Welt hat sich die Ansicht durchgesetzt, dieser Weltkrieg hätte am 1. September 1939 mit dem deutschen Angriff auf Polen begonnen.

Das hat seine Gründe, denn durch diese Gliederung läßt sich behaupten, er sei von Deutschland "entfesselt" worden. In Japan beispielsweise zieht man gänzlich andere Linien. Hier wird der "Zweite Weltkrieg" als Endphase eines einhundertjährigen Kampfs ums nationale Überleben gedeutet, der 1854 mit dem Einlaufen einer amerikanischen Kanonenbootflotte in den Hafen von Tokio begonnen hatte. Kommandeur Admiral Perry erzwang damals mit der Androhung von Waffengewalt den Import amerikanischer Waren und löste eine nachhaltige nationale Explosion aus. Japan verwandelte sich in wenigen Jahrzehnten in einen militanten Industriestaat, der den westlichen Imperialismus mit dessen eigenen Mitteln zu schlagen versuchte. Vor siebzig Jahren läutete der "Zwischenfall an der Marco-Polo-Brücke" im Juli 1937 den letzten Akt ein, den Krieg zwischen Japan und China.

Japan plante die Zerschlagung ganz Chinas

Bezeichnenderweise handelte es sich längst nicht mehr um einen Verteidigungskrieg, der hier mit einer ausgedehnten japanischen Großoffensive begann und sich mit immer neuen Angriffen und Rückschlägen beider Seiten bis 1945 zu einem Gemetzel auswuchs, das allenfalls in der deutsch-sowjetischen Auseinandersetzung zwischen 1941 und 1945 seine Parallelen findet. Eine genaue Zahl an Todesopfern ist auch hier nicht bekannt, aber keine Schätzung liegt unter zwanzig Millionen Toten. Die japanische Regierung versuchte letztlich nicht weniger als die Zerschlagung ganz Chinas, auch wenn man sich in der ewig zerstrittenen japanischen Führung zu Beginn des Krieges nicht über dieses Ziel einig war. Japan stand 1937 weiterhin vor dem Dilemma, dem politischen, wirtschaftlichen und militärischen Druck ausgeliefert zu sein, der von Metropolen ausging, von denen keine näher als zehntausend Kilometer an Tokio lag. Sie waren also dem japanischen Zugriff entzogen.

Das weltpolitische Dreieck Moskau/London/Washington bestimmte seit Anfang des neunzehnten Jahrhunderts immer mehr den Gang der Dinge in Ostasien, das früher einmal die Domäne der romanischen Seemächte Portugal und Spanien gewesen war. Bei der Unterminierung Chinas hatten die britischen Imperialisten keine Methoden gescheut, nicht einmal den Einsatz militärischer Mittel zur Förderung des Opiumhandels. Festungen und Häfen in Singapur und Hongkong garantierten dann mit den üblichen Vorgehensweisen die Überwachung dieses Handels durch die britische Flotte. Im Norden sah sich Japan dem nach Ostasien vorgedrungenen russischen Zarenreich gegenüber, das sich zwar aus Nordamerika durch den Verkauf Alaskas wieder zurückgezogen hatte, sich jedoch mit dem Ausbau seines programmatisch "Beherrsche den Osten" - Wladiwostok - genannten Haupthafens am Pazifik in die potentiellen Gegner Japans einreihte. Die USA, die Japan einst auf den Weg der Industrialisierung gezwungen hatten, griffen um 1900 wieder aktiv ein, beseitigten den allerletzten Rest spanischer Präsenz auf den Philippinen und unterdrückten die dortige Bevölkerung in einem blutigen Kolonialkrieg.

Derart umringt von europäisch geprägten Industriestaaten, zu denen sich schließlich auch noch das Deutsche Reich gesellte, da die Weltpolitik wilhelminischer Prägung auf den Erwerb einiger Landstriche im Pazifik nicht verzichten zu können glaubte, wurde auch Japan in der Wahl seiner Mittel wenig zurückhaltend. Ohne diesen Zusammenhang läßt sich der spätere Krieg in China nicht verstehen. Zeitweise schien dabei das Bündnis mit Großbritannien wenigstens eine der imperialen Mächte auf die Seite des japanischen Kaiserreichs zu bringen. So wurde es denn auch möglich, die 1904 mit Hilfe auch deutscher Kohlelieferungen nach Ostasien gedampfte russische Flotte bei Tsushima mit Mann und Maus zu versenken. Gern nahm das Kaiserreich Japan 1914 die englische Einladung zum Raubzug gegen den deutschen Besitz in Ostasien an, annektierte die bisher deutsche Enklave Kiautschou und setzte sich in Versailles an den Tisch der Sieger.

Aber dann geriet die japanische Politik ins Stocken. Der Sieg über Deutschland beseitigte nicht den Druck des angelsächsischen Imperialismus in diesem Raum und brachte nicht den Durchbruch zu einer als gleichberechtigt anerkannten Großmacht. Im Gegenteil erzwangen die Vereinigten Staaten die Lösung des britisch-japanischen Bündnisvertrags und setzten im Washingtoner Flottenabkommen mit der Androhung eines kompromißlosen Wettrüstens erstmals eine Begrenzung der britischen Flottenstärke durch. Japan mußte sich auf einem niedrigeren Niveau anschließen und erhielt bei dem allgemeinen Verhältnis Fünf-zu-Fünf-zu-Drei die Rolle des Juniorpartners zugesprochen. Da außerdem noch die weitere Befestigung von Stützpunkten verboten wurde (Ausnahme waren nur der US-Stützpunkt Pearl Harbor auf Hawaii und das britische Pendant in Singapur) konnte Japan künftig ohne Verbündeten und unzureichend gerüstet den Launen der angelsächsischen Großen Koalition ausgesetzt sein.

Man suchte Auswege und glaubte sie schließlich auf dem ostasiatischen Festland gefunden zu haben. Begünstigt durch ein scheinbares Nachgeben der neuen stalinistischen Führung in Moskau, die alte russische Eisenbahnrechte in der Mandschurei desinteressiert verkaufte, besetzte Japan 1932 die bisher chinesische Mandschurei und proklamierte dort einen Satellitenstaat, der als Lebens- und Siedlungsraum dienen sollte. Der Preis war hoch, denn es folgte eine dauerhafte Zerrüttung der Beziehungen zu den Angelsachsen und der Verlust des Status als Siegermacht von Versailles.

Als Franklin Delano Roosevelt im Januar 1933 das Amt des amerikanischen Präsidenten antrat, schwebte längst der Kriegsgeruch über dem Pazifik. Die Situation zwischen Japan und China konnte in den Folgejahren nie stabilisiert werden, zumal von Moskau und Washington aus alles getan wurde, um diesen Konflikt zu fördern. Zugleich blieb die japanische Führung selbst uneins, gegen wen sie sich wenden sollte. Mit den angelsächsischen Mächten wollte man es sich nicht verderben, auch in realistischer Einschätzung der Verhältnisse. Die Rote Armee aber zeigte ihrerseits 1939 die Zähne und brachte den japanischen Truppen im russisch-mandschurischen Grenzgebiet eine vernichtende Niederlage bei. So rutschte Japan auch deswegen schließlich in einen ausgedehnten Landkrieg gegen den scheinbar schwächsten Gegner. Mit einem Sieg dort hätte die amerikanische Politik vielleicht zum Einlenken gezwungen werden können. Auch die Moskauer Strategie einer Förderung der Weltrevolution durch eine kommunistische Machtübernahme in China wäre durchkreuzt worden. Beides waren indirekte Effekte, auf man in Tokio bis zum bitteren Ende hoffte und noch 1944 ausgedehnte Offensiven startete.

Kriegsfolgen führen bis heute zu Spannungen

Was die Einordnung des japanisch-chinesischen Krieges in das Gesamtgeschehen des Zweiten Weltkriegs angeht, so gibt es eine einzige wesentliche Wechselwirkung zwischen den Kriegsschauplätzen Europa und Asien. Die japanische Regierung ließ sich im Frühjahr 1941 von den Moskauer Machthabern betrügen und schloß einen Neutralitätsvertrag ab, der Stalin den Rücken für einen Krieg gegen Deutschland freihielt. Man hielt sich in Tokio auch daran, als der deutsch-russische Krieg wenig später begann. Der Einsatz eines nennenswerten Teils jener nach Millionen zählenden japanischen Truppen, die in China letztlich ergebnislose Unternehmungen durchführten, wäre gegen die Rote Armee jedoch kaum ohne Wirkung geblieben. Stalin seinerseits brach diesen Vertrag - wie alle anderen dieser Art, die er schloß - und griff Japan gegen Kriegsende an. Das geschah so heftig, daß Franklin Roosevelts Nachfolger Truman zur Atomwaffe griff, um eine sowjetische Besatzung des Kaiserreichs zu verhindern. Gut hundert Jahre nach Admiral Perry läutete der Atomtod 1945 das Ende von Japans Versuchen ein, sich über die Industrialisierung als eigenständige Macht zu behaupten. China dagegen gelang der Aufstieg zum ständigen Mitglied des Weltsicherheitsrats und damit letztlich der Sieg.

Der mit großer Brutalität auch gegen die chinesische Zivilbevölkerung geführte Krieg, die nicht minder kompromißlose Besatzungspolitik mit opferreichen Drangsalierungen der chinesischen Bevölkerung belasten immer noch die Beziehungen zwischen Peking und Tokio. So erneuert jeder Besuch prominenter japanischer Politiker des Tokioter Gefallenen-Schreins Yasukuni für die japanischen Weltkriegsgefallenen die Proteste aus Peking und führt wegen dort auch bestatteter Verantwortlicher der blutigen Besatzungszeit regelmäßig zu bilateralen Spannungen. Aufmerksamkeit erlangten aber auch zivile Organisationen, die sich für Entschädigungszahlungen von Japan an bis zu 200.000 chinesische und koreanische Frauen einsetzen, die während der Besatzungszeit als sexuelle Sklavinnen, sogenannte "Trostfrauen", den japanischen Besatzern in Soldatenbordellen zu Diensten sein mußten. Zuletzt ist Japan Ende Juni sogar vom Außenpolitischen Ausschuß des US-Repräsentantenhauses aufgefordert worden, sich ausdrücklich für die Zwangsprostitution von Koreanerinnen und Chinesinnen vor und während des Zweiten Weltkriegs zu entschuldigen. Japan befördere seit langem, so der Vorwurf des US-Demokraten Tom Landos, aktiv einen "historischen Gedächtnisschwund".

Fotos: Chinesischer Soldat bewacht US-Kampfflugzeuge, China 1942: Washington war zu weit entfernt; Chinesische "Trostfrauen" demonstrieren für Entschädigung ihres erlittenen Unrechts: Brutaler Krieg gegen die Zivilbevölkerung


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen