© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/07 20. Juli 2007

Eurasische Preziosen
Skythen, Merowinger und offene Fragen: Ausstellungen in Berlin und St. Petersburg
Wolfgang Saur

Unter großem Publikumsandrang und Medienecho öffnete am 19. Juni die Merowinger-Ausstellung in der Eremitage. Schon im Moskauer Puschkin-Museum (13. März bis 13. Mai) war sie als Sensation gefeiert worden. "Merowingerzeit - Europa ohne Grenzen. Archäologie und Geschichte des 5. bis 8. Jahrhunderts" vermittelt mit 1.300 kostbaren Objekten einen bislang einmaligen Überblick der kulturgeschichtlichen Entwicklung Europas dieser Periode und präsentiert ein vielschichtiges Bild der Völkerwanderungszeit im Gebiet des Ural und der Ostsee bis zum Schwarzen Meer.

Dabei werden synchrone Kulturen aus dem Baltikum, der russischen Waldsteppenzone, vom Balkan sowie aus Süd-, Mittel- und Westeuropa gegenübergestellt. Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz spricht von "außergewöhnlicher kulturpolitischer Bedeutung", handelt es sich doch um das erste bilaterale Gemeinschaftsprojekt; so wurde der dreisprachige Katalog rein aus Stiftungsmitteln finanziert.

Sensationell sind die "Merowinger" auch wegen der hier erstmals gezeigten 700 deutschen Beutekunstobjekte, die 1945 aus Berlin verschwanden. Darunter auch 300 Kostbarkeiten aus den legendären Goldkisten des einstigen Museums für Vor- und Frühgeschichte, das 1939 seine "unersetzlichen" Werte in dreißig Tragekästen und drei "Goldkisten" auslagerte. Diese drei bargen merowingische Goldfunde, den Goldschatz von Eberswalde und Schliemanns sagenhaften Trojafund. Nachdem dieser 1996 in Moskau wieder ans Licht kam, werden nach und nach auch die übrigen Preziosen der Weltöffentlichkeit vorgestellt. Obwohl die aktuelle Merowingerschau auch 230 Berliner Leihgaben zeigt, kann sie in Deutschland nicht gastieren. Denn der hiesige Rechtsanspruch auf 1945 konfisziertes Raubgut bleibt bestehen. Ihn konterkariert die russische Position. Nur informell gerät manches in Bewegung; der Kalte Krieg scheint endlich abzuschmelzen.

Das zeigt auch die ferne, versunkene eurasische Kultur der Skythen, die jetzt - erstmals weltweit - eine großartige Ausstellung im Berliner Gropiusbau umfassend darstellt. 17 Museen des In- und Auslands haben den staunenswerten Reichtum von 6.000 Objekten zusammengetragen. Beteiligt an diesem ungewöhnlichen Projekt sind Einrichtungen aus Rußland, der Ukraine, Kasachstan, Rumänien, Ungarn und dem Iran - was auf die Herkunft des Volkes der "goldhütenden Greifen" verweist. Herodot erzählte dem Abendland erstmals von den kühnen Reiternomaden und deren Taten aus dem 8. bis 3. vorchristlichen Jahrhundert, die Zentralasien entstammten, um sich vom Jenissei bis an die Tore Mitteleuropas vorzuschieben.

Das macht verständlich, weshalb ein archäologischer Hauptgrabungsort im neuen Jahrtausend in Arzan (in der südsibirischen Republik Tuwa) liegt. Dort, an der russisch-mongolischen Grenze, förderten die Fachleute vom Deutschen Archäologischen Institut und der Petersburger Eremitage 2000/04 ein riesiges Fürstengrab zutage. Dieser Kurgan gab einen unversehrten Goldschatz frei: das größte archäologische Ereignis seit langem. Solche Grabhügel, ihre aufwendigen Architekturen und speziellen Bildsysteme samt der komplexen Zeremonien, die die Relikte vermitteln, erschließen uns heute die archaische Steppenkultur. So entstammen auch die Funde im Gropiusbau, filigrane Goldschmiedearbeiten zumal, solchen "Prunkinventaren" - etwa aus dem "Tal der Könige". Im Lichthof wurde gar ein solcher Kurgan rekonstruiert. Er setzt den monumentalen Akzent für einen Rundgang, welcher dem Zug der Skythen von Ost nach West folgt.

Konzeptionell, wissenschaftlich und organisatorisch wird die Mammutveranstaltung (samt dem Stelldichein internationaler Spezialisten, die sich vom 5. bis 7. Juli in Berlin zum "Skythenkongreß" trafen) verantwortet von Hermann Parzinger, dem Chef des Deutschen Archäologischen Instituts, der in diesem Forschungsfeld Deutschlands erster Fachmann ist. Seit 1995 ist er selbst in Rußland als Ausgräber tätig. So glückte ihm 2001 die Weltsensation dieses bedeutendsten Grabfundes in Arzan - was ihm auch bei den Russen beträchtlichen Kredit verschafft. Ein zukunftshaltiges Kapital vielleicht?

Dem 48jährigen gelang jetzt ein weiterer Karrieresprung: Am 8. Juni wurde er einstimmig als Nachfolger Klaus-Dieter Lehmanns zum neuen Präsidenten der Stiftung Preußischer Kulturbesitz gewählt. Der umtriebige Altertumsforscher, ein "Mann der multiplen Begabungen" (FAZ), der "seit langem als internationaler Kooperationspartner hoch geachtet" ist und als "großartiger Kommunikator und Moderator" (Bernd Neumann) gilt, studierte Vor-, Früh- und Mittelalterhistorie und Provinzialrömische Archäologie in München, Saarbrücken und Ljubljana; dann erforschte er die Kulturgeschichte der Karpaten und des Mittleren Taurus. Seine Arbeitsschwerpunkte in den letzten Jahren lagen in der Türkei, dem Iran, in Mittelasien und Sibirien.

Parzinger, habilitiert seit 1992, ist dem Deutschen Archäologischen Institut seit 1995 verbunden und wurde 2003 dessen Präsident. Der geniale, bislang noch wenig populäre Fachmann hat kontinuierlich seit 1996 gute Arbeitsbeziehungen zu den Russen aufgebaut - was ihn auch dem Stiftungsrat empfahl. Der Preußische Kulturbesitz verwaltet als größte deutsche Kulturinstitution mit 2.000 Mitarbeitern und einem Jahresetat von 240 Millionen Euro zahlreiche Museen, Wissenschaftsinstitute, Archive und Bibliotheken. Die Amtszeit Lehmann/Schuster seit 1999 verlief erfolgreich: Sie hat gewaltige Bauvorhaben initiiert und realisiert, vor allem aber die Berliner Museen und die Staatsbibliothek wieder zur Weltspitze geführt. Dagegen scheiterte man im Rechtsstreit mit Rußland um den seit 1945 verschollenen Kulturbesitz. Diese Agenda hat nun auch Parzingers Wahl motiviert - was die FAZ kommentierte: "(...) vor allem seine bisherige Politik hinter den Kulissen qualifiziert ihn nun zum Chef einer der größten Kultureinrichtungen weltweit".

Das Berliner Museum für Vor- und Frühgeschichte, das die Skythen-Schau ausrichtet, zählte vor 1945 mit seinen 180.000 Funden zu den drei wichtigsten prähistorischen Sammlungen der Welt. Die Bilanz nach der Wende zeigte einen Verlust von ca. 45 Prozent des Vorkriegsbestands. Nur 10 Prozent der 3.000, 1939 als "unersetzlich" eingestuften Objekte befinden sich heute noch in Berlin. Verlustig ging man vor allem der 1.538 in drei "Goldkisten" geborgenen Preziosen. Daß die Russen diese vereinnahmt hatten, wurde klar, als 1996 der Trojaschatz wieder auftauchte. Seitdem haben seine (heutigen) Kuratoren allein 11.500 Objekte aus dem (alten) Museum für Vor- und Frühgeschichte in russischen Depots entdeckt. Doch scheint die Lage politisch aussichtslos.

Alle Verhandlungen stagnieren seit zehn Jahren. Zwar hatten der Friedens- und Nachbarschaftsvertrag von 1990 und das Kulturabkommen von 1992 eine umfassende Kulturrückführung vereinbart, doch wurde 1998 all dies wieder in Frage gestellt. Die Duma formulierte ein Enteignungsgesetz, das Beutekunst russifiziert. Es stößt die Übereinkunft von 1990/92 um, ist nicht einmal kompatibel mit der Haager Landkriegsordnung (1907). Reparationsleistungen durch Beschlagnahme von Kulturgütern sind völkerrechtlich unzulässig. Auch eine Ermächtigung der Sowjetunion durch den Alliierten Kontrollrat hat es nie gegeben.

Derweil bilden sich Initiativen auf informellem Weg, so 2001 eine Kooperation der Stiftung mit Michail Piotrowskij, dem Direktor der Eremitage: die Arbeitsgruppe des "Petersburger Dialogs". Schließlich trafen sich am 8. November 2005 siebzig deutsche, vom Problem betroffene Museumsvertreter am Berliner Kulturforum zur Vollversammlung. Dort wurden auch die gewaltigen Verlustkataloge der Öffentlichkeit vorgestellt. Eine Million vermißte Museumsobjekte und 4,6 Millionen Bücher und Archivalien sind schätzungsweise in Rußland "eingefroren".

Resultat war ein Beschluß zur Interessenverstetigung ("Initiative Deutsch-Russischer Museumsdialog"), um effektiver agieren zu können. Den stalinistischen Abwehrgestus der Gegenseite sucht man aufzuweichen durch Expertengespräch, Wissensaustausch, Initiativen zur Erhaltung und Restaurierung der Bestände, kurz: institutionelle Kooperation, um Zutritt zu bisher verschlossenen Depots zu finden. Erstes Ergebnis solcher Zusammenarbeit sind die "Merowinger". Auch die spektakuläre Berliner Skythen-Ausstellung offenbart nun das produktive Potential, das in den neugeschaffenen Strukturen steckt. Wohl dem, der von hier aus die kunstpolitische Depression aufbräche.

Die Ausstellung "Im Zeichen des Goldenen Greifen. Königsgräber der Skythen" ist bis zum 1. Oktober im Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstr. 7, täglich von 10 bis 20 Uhr zu sehen. Internet: www.smb.museum/skythen

Fotos: Goldener Aufsatz mit Fabeltieren von der Zipfelhaube des Mannes aus Issyk (6./5. Jh. v. Chr.);  Baumsarg der Eisprinzessin im Kurgan 1 von Ak-Alacha


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