© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/07 27. Juli / 03. August 2007

Werkbank gegen Dienstleistung
Asien: Langfristig gesehen könnte Indien den Konkurrenten China wirtschaftlich ein- und sogar überholen
Albrecht Rothacher

Man addiere die Bevölkerungszahl beider auf 2,5 Milliarden und rechne die aktuellen Wachstumsraten (acht Prozent für Indien, zehn Prozent für China) auf das Jahr 2020 hoch. In dem neugeschaffenen "ChinIndien" schüfe dann 40 Prozent der Weltbevölkerung 17 Prozent der Weltwirtschaftsleistung. Eine neue Supermacht wäre geboren, die den USA den Rang abliefe, vom zerstrittenen, sozialsklerotischen Europa ganz zu schweigen.

Als Chinas Präsident Hu Jintao im November 2006 Neu-Delhi besuchte, beflügelte diese Vision kurzfristig wieder die Phantasien. Die ersten literarischen Schnellschüsse bevölkern mittlerweile die Asienregale der Buchhandlungen. Doch wird "ChinIndien" je Realität? Wohl kaum.

Zu stark ist die regionale Rivalität, das Ringen um Einflußmacht in Nepal, Burma, in Südostasien, die Erinnerung an den von Indien verlorenen Grenzkrieg von 1962, die weiter umstrittene 1.200 Kilometer lange Himalaja-Grenze, die chinesischen Ansprüche auf die nordostindische Provinz Arunachal Pradesch, indische Einkreisungs- und Zweifrontenängste wegen des mit China verbündeten Erzfeindes Pakistan und der chinesische Widerstand gegen das sich abzeichnende Bündnis Indiens mit den USA - die einzige diplomatische Erfolgsgeschichte der Bush-Regierung.

Dazu kommt der verschärfte Wettbewerb um Öl- und Rohstoffquellen sowie die Konkurrenz um Weltmarktanteile bei arbeitsintensiven Billigprodukten, bei denen das infrastrukturschwache Indien mit seiner wirtschaftsfeindlichen Bürokratie bislang meist das Nachsehen hatte. Allerdings konzentriert sich Indien auf dem Weltmarkt zunehmend auf höherwertige Dienstleistungen und Fertigungen, die langfristig aussichtsreicher erscheinen.

China wurde dank internationalem Kapital zur Werkbank der Welt; Indien dagegen mit eigenem Geld und Wissen zum globalen Dienstleistungszentrum: Von der Rechner-Software und Telefonzentren zu ärztlichen Behandlungen und der Wartung von Flugzeugen. Dazu liegt Indien mit seinem tradierten Staatsbürokratismus und seinen Infrastrukturschwächen in der Entwicklung ein Jahrzehnt hinter China. So ergänzten sich ihre Rollen in der globalisierten Weltwirtschaft trefflich und konfliktfrei.

In Wahrheit jedoch zeichnet sich hier der Wettbewerb zweier Entwicklungsmodelle ab, der mittelfristig doch zu einem Aufholen der indischen Industriekonkurrenz und zu einem verschärften Wettbewerb im Zugang zu Rohstoffen im Nahen Osten, Burma und Afrika führen wird.

Da ist einmal die exportzentrierte, vom Auslandskapital finanzierte und angeleitete modernisierte Reindustrialisierung Chinas (dessen Wachstum die nötigen Strukturreformen der maroden Staatsbetriebe und Staatsbanken unwillentlich verzögerte) einerseits, und die im wesentlichen von nationalen Unternehmern organisierte Wirtschaftsexpansion Indiens andererseits, die sich seit dem Beginn der Entstaatlichungsreformen 1991 stets in den Sektoren sehr schnell ausbreitet, aus denen sich die alle Initiativen lähmende staatliche Bürokratie gerade schneckengleich zurückgezogen hatte. Dies begann zuerst mit vielen Dienstleistungen, betrifft aber zunehmend auch industrielle Sektoren wie die Pharmazie, Grundstoffchemie, Metallverarbeitung, Kfz-Herstellung etc. Doch ist die Vorstellung des Überspringens des industriellen Entwicklungsstandes, in dem Millionen von Landarbeitern direkt als Dienstleister angestellt werden, irreal, wie Barun Mitra von der Denkfabrik Liberty Institute Delhi argumentiert. Dazu ist der boomende IT-Sektor mit 1,5 Millionen Angestellten auch in Indien nicht besonders beschäftigungsintensiv.

Während der langen Herrschaftsjahrzehnte der Kongreßpartei (1947-91) und ihrer von Brahminen dominierten Beamtenschaft verharrte Indien auf Wachstumsraten um drei Prozent, die nur knapp über dem Bevölkerungszuwachs von zwei Prozent lagen. Zwar wurde stets bekundet, die Politik helfe den Armen, statt dessen aber habe sie der Armut geholfen, so Finanzminister Chidabaram. Die Wirtschaft war mit einem komplexen System von Lizenzen, Quoten und Verordnungen, dem "Licence Raj", von der Weltwirtschaft, dem industriellen Wettbewerb und den meisten Innovationen mit dem Ziel einer weitgehenden Autarkie abgeschirmt und mit staatlichen Monopolen, einer kapitalintensiven Schwerindustrie und Investitionslenkungen beglückt worden. Das Ergebnis war vorhersehbar.

So leben in Indien weiter 71 Prozent der Bevölkerung auf dem Land (China: 41 Prozent). Unter der Armutsgrenze existieren 25 Prozent (China: 10 Prozent). Die Analphabetenquote beträgt 41 Prozent (China: 9 Prozent), die Säuglingssterblichkeit 6,7 Prozent (China: 3,1 Prozent), die Lebenserwartung 63,3 Jahre (China: 70,6), das Pro-Kopf-Einkommen 2.400 US-Dollar im Jahr (China: 6.800) und die kumulativen Auslandsinvestitionen bis Ende 2006: 45 Milliarden US-Dollar (China: 318). Diese Unterschiede erklären, daß China mit 762 Milliarden US-Dollar Exporten 7,3 Prozent des Welthandels leistet,  Indien dagegen mit nur 95 Milliarden US-Dollar 0,9 Prozent (2004). Daher ist Chinas Wirtschaft mit 40 Prozent Exportanteil am Bruttoinlandsprodukt wesentlich weltmarktabhängiger geworden als Indien mit nur 15 Prozent.

Indiens gewachsene Unternehmenskultur hat noch immer auf neue Marktchancen dynamisch reagiert, zumal sie unter den 500 Millionen Arbeitskräften auf ein großes Reservoir auch gutausgebildeter Fachkräfte - darunter zwei Millionen Ingenieure - zurückgreifen kann. Während in China unter den einheimischen Firmen nach wie vor die maroden Staatsbetriebe dominieren, in denen Parteisekretäre das Sagen haben und die von offenen Kreditlinien der Staatsbanken über Wasser gehalten werden, sind Indiens führende Konzerne außerhalb des Energiesektors alle privatwirtschaftlich. Sie gelten in Summe als gut geführt und nutzen seit dem letzten Jahrzehnt in nahezu atemberaubendem Tempo die Chancen, die die graduelle Liberalisierung und die wachsende Kaufkraft im Binnenmarkt sowie die niedrigen Kapitalkosten für eine Weltmarktexpansion bieten, die ihnen Produktionsquoten und Kapitalverkehrskontrollen früher verunmöglicht hatten. So wird man sich, neben dem Auslandsinder Lakshimi Mittal, der die Stahlindustrie von Kasachstan bis Lothringen beherrscht, an eine Reihe neuer indischer Weltfirmen gewöhnen müssen.

Während China sicher bis auf weiteres unschlagbar bleibt als Exporteur industrieller Massenproduktionen, die sich auf seine Massen an willigen, billigen und fleißigen Arbeitern und die relativ gute Infrastruktur der Küstenregionen stützen, hat Indien seine Zukunft als Weltlabor für die Pharmazie, Biotechnologie und Computersoftware, als Weltzentrum für mobile Dienstleistungen aller Art, von medizinischen Operationen bis zu Bankanalysen und der Drucklegung wissenschaftlicher Zeitschriften. Dazu kommt in der industriellen Fertigung die Spezialisierung in der kapital- und wissensintensiven Pharma-, Chemie- und Biotechnologie, in Teilefertigungen (zum Beispiel in der Kfz-Industrie) und kundenspezifischen Spezialmaschinen.

 Indien profitiert hier von seinen leistungsbeflissenen, natur- und ingenieurwissenschaftlich belesenen Hochschulabsolventen, die allesamt gut Englisch können, von den jüngsten Deregulierungen, von billigem Kapital, einem - gerade im Vergleich zu China - guten Rechtsschutz für Patente und wirtschaftliches Eigentum sowie schließlich weiter niedrigen Arbeits- und Entwicklungskosten.

Entscheidend für die politische Würdigung der indischen Modernisierung sind sicher die relativ gute Rechtssicherheit - eine Errungenschaft der britischen Kolonialherrschaft gegenüber der sultanistischen Herrschaft der Mogule  - und die für die Entwicklung kreativer Wissensindustrien unabdingbare Meinungs-, Informations- und Wissenschaftsfreiheit. Es ist also nicht richtig, wenn indische Kommentare im Blick auf Rückstände, bürokratische Fehlentscheidungen und Korruption entschuldigend anführen, dies sei durch die Defizite des demokratischen Systems mit seinen vielfachen Rücksichtnahmen bedingt. Auch weist Amartya Sen, Nobelpreisträger des Jahres 1998, zu Recht darauf hin, daß Chinas bisheriger Erfolg nicht seiner autoritären Diktatur, sondern eher dem Bildungsstand und der Arbeitsmoral der Chinesen, der Infrastruktur, den Exportanreizen und der Öffnung für Auslandskapital geschuldet ist.

Im Vergleich der Entwicklungspfade wird deutlich, daß die Mehrwertschaffung und die Nachhaltigkeit eher im neuen indischen Modell des Weltdienstleistungszentrums und Weltlabors liegen als im chinesischen Muster der arbeits- und energieintensiven Massenfertigung. Damit sind die Weichen für das langfristige Auf- und Überholen Indiens gestellt.

Foto: Indien und China:  In der einstigen Kronkolonie leben 71 Prozent der Bevölkerung auf dem Land, im Reich der Mitte nur 41 Prozent, die Analphabetenquote beträgt 41 bzw. 9 Prozent


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