© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/07 27. Juli / 03. August 2007

Der Machtkampf geht weiter
Türkei: Erneut islamische Mehrheit im Parlament / Erstmals auch eine kurdische Fraktion gewählt
Günther Deschner

Am Sonntag haben die Türken ihr neues Parlament gewählt. Das Ergebnis ist eindeutig ausgefallen, doch was es für die politische Zukunft des im Innern zerrissenen Landes verheißt, ist noch lange nicht ausgemacht. Natürlich ist die islamisch-religiöse Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) von Premier Recep Tayyip Erdoğan der eindeutige Sieger. Bei der letzten Wahl 2002 hat die AKP mit nur 34,3 Prozent fast eine Zwei-Drittel-Mehrheit von 352 der 550 Sitze erzielt - dank der Zehn-Prozent-Hürde im türkischen Wahlrecht einerseits und einer zerklüfteten Parteienlandschaft andererseits. Dieses Mal erhielt die AKP mit 46,5 Prozent zwar "nur" 340 Mandate, aber sie übertraf damit sogar das selbstgesetzte Traumziel von 40 Prozent.

Die Meinungsforscher lagen mit Prognosen zwischen 28 und maximal 41 Prozent wieder mal voll daneben. Rechnet man die 2,3 Prozent für die Partei der Glückseligkeit (SP, politischer Arm der islamischen Milli-Görüş-Bewegung) von Recai Kutan und Ex-Premier Necmettin Erbakan hinzu, so hat fast jeder zweite Wähler in der Türkei "islamisch" gestimmt, was als "Schuß vor den Bug der alten türkischen Elite" (New York Times) verstanden werden kann.

Die bisherige parlamentarische Opposition schloß erneut - außer im äußersten Westen der Türkei - schwach ab: Die 1923 von Kemal Atatürk gegründete linksnationale Republikanische Volkspartei (CHP), die für das laizistisch-weltliche Establishment steht, erreichte unter Führung des unpopulären Deniz Baykal nur 20,8 Prozent (plus 1,4 Prozent/112 Sitze). Trotz ihrer absoluten Mehrheit stehen der AKP im neuen Parlament stürmische Zeiten bevor. Denn nun wird es vier Fraktionen geben, die sich gegenseitig spinnefeind sind: Mit 14,3 Prozent entsendet die rechtslaizistische Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), die 2002 mit 8,3 Prozent gescheitert war, nun wieder 71 Abgeordnete ins Parlament. Die besonders in der Südtürkei starke MHP fordert lautstark ein militärisches Abenteuer ins irakische Nachbarland, um nach dort ausgewichene Gruppen des kurdischen Widerstands zu vernichten und das Entstehen eines eigenen Staates der irakischen Kurden zu verhindern. Parteichef Devlet Bahçeli warf im Wahlkampf einen Strick ins Publikum, um zu zeigen, wie er mit Kurden-Aktivisten umgehen würde.

Aber diese werden nach langer erzwungener Abstinenz erstmals wieder ins türkische Parlament einziehen. 1995 hatte man die prokurdischen Abgeordneten von der Polizei aus dem Plenum zerren und von Gerichten verurteilen lassen, weil sie einzelne Erklärungen außer auf türkisch auch noch auf kurdisch, also in ihrer und ihrer Wähler Muttersprache, abgegeben hatten. Diesmal hatte sich die pro-kurdische DTP (Demokratische Gesellschaftspartei), die vor fünf Jahren als Dehap 6,7 Prozent erhielt, dafür entschieden, ihre Kandidaten als Unabhängige aufzustellen. Prompt änderten die anderen Parteien das Wahlgesetz und erschwerten mit technischen Tricks die Wahl von Einzelkandidaten. Wie bestellt, stimmte auch der kurdenfeindlich orientierte laizistische Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer, der sonst so gern Reformen ablehnt, dieser Änderung der Verfassung zu. Trotzdem setzten die Kurden - dank Ergebnissen von bis zu 60 Prozent in den Wahlbezirken im kurdischen Südosten - nun 23 Einzelkandidaten durch, darunter die formal "parteilosen" Ex-DTP-Chefs Ahmet Türk und Aysel Tuğluk sowie Akın Birdal, der frühere Vorsitzende des türkischen Menschenrechtsvereins IHD. Die erst im Mai neugegründete liberal-konservative Demokratische Partei (DP) scheiterte mit 5,4 Prozent - 2002 hatten die damals getrennt angetretenen Ex-Regierungsparteien DYP und Anap zusammengerechnet noch 14,7 Prozent erhalten (JF 46/02).

Die nationalpopulistische Genç-Parti (Jugendpartei/GP) des türkischen "Berlusconi" Cem Uzan, die 2002 immerhin 7,3 Prozent erhielt, bekam nur noch drei Prozent. Die AKP selbst ist ebenfalls von vielen Widersprüchen geprägt. Ihre Kritiker fürchten, daß sie die Islamisierung des Landes weiter vorantreiben und nun erstmals einen offen islamischen Staatspräsidenten installieren könnte. Ihre Anhänger hingegen betonen, die AKP sei die einzige Partei in Nahost, die eine islamische Orientierung mit demokratischen Haltungen verbinde. Tatsächlich hat Erdoğan (einst Weggefährte von Erbakan) die AKP inzwischen auch säkularen Kräften geöffnet. Unter ihren Kandidaten sind auch Ex-CHPler oder Frauen ohne Kopftuch. Zugleich steht die AKP für Wirtschaftsreformen, die dem Land einen kräftigen ökonomischen Aufschwung brachten.

Daß es zu diesen vorgezogenen, an sich erst im November fälligen Wahlen kam, ist Ausdruck des ungelösten Konfliktes zwischen den beiden großen politischen Lagern, der seit Jahren vor sich hin schwelt - zwischen den laizistisch denkenden "alten" Eliten, die sich um das Militär scharen und die das politische Vermächtnis Atatürks von der andauernden Trennung von Religion und Staat bewahren wollen, und auf der anderen Seite jener Bewegung moderater Islamisten, die sich die AKP gruppiert. Der Konflikt hatte im Mai einen Höhepunkt erreicht, als die AKP im Parlament versuchte, nach dem Regierungs- auch noch den Staatschef aus ihren Reihen wählen zu lassen (JF 19/07). Viele säkulare Türken fühlten sich daraufhin von einer "Hegemonie" der AKP bedroht, und das Militär drohte offen mit einem Staatsstreich.

Die Wahlbeteiligung von etwa 80 Prozent ist Ausdruck für diese sensibilisierte Situation. Viele empfanden die Wahl als Richtungsentscheidung zwischen der AKP und den Parteien, die für eine säkulare Haltung stehen und die der AKP eine Bedrohung des laizistischen Systems des Landes vorwerfen. Ob die jetzt durchgeführte Wahl nun tatsächlich eine Lösung aus der politischen Krise bringt, ist allerdings mehr als fraglich. Denn das Wahlergebnis läutet nur eine weitere Runde des schwelenden Machtkampfs ein. Die AKP verfehlte die Zweidrittelmehrheit, die für die Wahl eines AKP-Staatspräsidenten erforderlich ist. Daß CHP oder gar MHP das Stimmendefizit ausgleichen, erscheint ausgeschlossen. Und die Kurden-Fraktion zum Zünglein an der Waage zu machen, wäre gleichbedeutend mit einer Einladung zum nächsten Staatsstreich durch die Armee.

Zwar wird nun im Oktober dieses Jahres per Volksabstimmung darüber entschieden, ob der Staatspräsident zukünftig in direkter Wahl bestimmt wird. Solange diese Entscheidung aber noch nicht gefallen ist, bleibt das Parlament in der Pflicht. Da Sezer nur noch kommissarisch im Amt ist, muß das Parlament, wenn es sich im August konstituiert hat, innerhalb von vier Wochen einen neuen Staatspräsidenten wählen.

Gelingt das nicht, wird es nach vier Wochen automatisch wieder aufgelöst. Wahrscheinlich gehen die Türken Ende Oktober erneut an die Urnen, um dann gleichzeitig über ein neues Parlament und die Direktwahl des Staatspräsidenten abzustimmen. Es wird deshalb befürchtet, daß die Spannungen im Lande weiter anhalten. Diese Patt-Situation ist ein weiteres Indiz dafür, daß die politische Krise in der Türkei tiefer geht als dies von außen registriert wird.

Foto: Premier Erdogan mit Ehefrau Emine vor AKP-Anhängerinnen: Laizisten befürchten eine zunehmende Islamisierung der Türkei


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