© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/07 27. Juli / 03. August 2007

Durch nichts zu rechtfertigen
Die Atombomben-Abwürfe auf Hiroshima und Nagasaki im August 1945 waren ein furchtbares, bis heute ungesühntes Kriegsverbrechen
Björn Schumacher

Großflächige Spreng- und Brandbombenabwürfe der amerikanischen Heeresluftstreitkräfte (USAAF) vernichteten Anfang 1945 nacheinander Tokio, Nagoya, Yokohama, Kobe und Osaka. Allein in Tokio starben mindestens 120.000 Zivilisten (JF 31-32/03). Am 6. und 9. August folgten zwei atomare Schläge, die bis Ende 1945 in Hiroshima etwa 150.000, in Nagasaki etwa 80.000 Menschen töteten. Dort waren über zehn Prozent der Opfer koreanische Zwangsarbeiter. Immer noch sterben Personen an den Spätfolgen radioaktiver Kontamination.

Die zeitliche Nähe spricht für eine kausale Verknüpfung zwischen den Atombomben und der japanischen Kapitulationserklärung vom 14. August 1945. Hauptursache der Niederlage Japans waren aber die Abschnürung des Landes von Rohstoffquellen und Nahrungsmittelzufuhr sowie die fortschreitende Dezimierung seiner Seeflotte. Selbst "Morale Bombing"-Befürworter Winston Churchill spielt in seinen Memoiren den Untergang Hiroshimas und Nagasakis herunter: "Die Annahme, Japans Schicksal sei durch die Atombombe besiegelt worden, ist falsch. Die Niederlage war als Folge der überwältigenden maritimen Macht seiner Gegner schon vor dem Abwurf der ersten dieser Bomben eine Gewißheit."

Haben die Atombomben den Pazifikkrieg zumindest verkürzt und eine verlustreiche Invasion der japanischen Hauptinseln verhindert? Die Frage verweist auf ein anderes dramatisches Geschehen. Stalin brach am 9. August 1945 den japanisch-sowjetischen Neutralitätspakt, tags darauf marschierte die Rote Armee in die strategisch wichtige, seit 1932 von Japan besetzte Mandschurei ein. Beide Vorgänge mußten den Inselstaat um so massiver erschüttern, als Kaiser Hirohito auf eine Vermittlerrolle Stalins gesetzt hatte. Plausibel erscheint daher eine Verkürzungsthese mit zwei Kausalfaktoren, von denen jeder einzelne eine nicht hinwegzudenkende Teil-ursache der Kapitulation bildet. "Die japanischen Führer wußten, daß Japan den Krieg verlieren würde. Aber Niederlage und Kapitulation sind nicht das gleiche. Die Kapitulation ist ein politischer Akt. Ohne den Zwillingsschock der Atombomben und des sowjetischen Kriegseintritts hätten die Japaner im August niemals die Kapitulation akzeptiert", bemerkte  der japanische Historiker Tsuyoshi Hasegawa.

Was folgt daraus für die Frage nach der ethischen und juristischen Rechtfertigung der Atomwaffeneinsätze? Sie muß von vornherein verneinen, wer die gezielte Tötung Unschuldiger grundsätzlich für verboten hält, die gezielte Tötung Unschuldiger dann für verboten hält, wenn sie lediglich der Verkürzung eines de facto bereits entschiedenen Krieges dient oder den Einsatz atomarer Waffen grundsätzlich für verboten hält, weil er die Bedingungen der Existenz menschlicher Zivilisation und damit auch des Moralprinzips selber gefährdet. Jeder andere Moralphilosoph und Völkerrechtler müßte fragen, ob die Bombenabwürfe geeignet, erforderlich und alles in allem verhältnismäßig waren, den Krieg sofort zu beenden und eine wesentlich größere Zahl anderer Menschen, insbesondere kämpfender Soldaten, vor dem Tod zu bewahren. Schwerpunktmäßig geht es um die Erforderlichkeit  bzw. militärische Notwendigkeit. Es hätte aus damaliger Sicht keine per saldo Menschenleben rettende Alternative zu der Vernichtung Hiro­shimas und Nagasakis geben dürfen. An dieser Voraussetzung fehlt es aber aus drei Gründen.

Erstens haben die Vereinigten Staaten nicht alle Möglichkeiten eines für Japan erträglichen Verhandlungsfriedens ausgelotet, obwohl sie "als ein liberales demokratisches Volk" den Japanern ein solches Angebot schuldeten (John Rawls). Der seit April 1945 amtierende US-Präsident Harry S. Truman hätte dafür nur etwas auf die kulturellen Prägungen des Inselreichs eingehen müssen. Eingedenk der für unabwendbar gehaltenen Niederlage gab es dort eine wachsende Bereitschaft zur Unterwerfung. Der amerikanische Geheimdienst fing Kabeltelegramme ab, in denen Kaiser Hirohito seine Militärs zum Nachgeben aufforderte. Mitte Juli 1945 erwähnt Truman in seinen Potsdamer Tagebucheintragungen ein "Telegramm vom Japsenkaiser mit der Bitte um Frieden" (Truman-Zitate nach Gar Alperovitz). Statt auf diplomatischem Wege darauf einzugehen, verlangten die Amerikaner am 26. Juli 1945 die bedingungslose Kapitulation und obendrein die das japanische Volk aufwühlende Abdankung des Tenno. Ein großzügigerer Entwurf des Kapitulationsparagraphen war zuvor von Truman gestrichen worden. Wie willkürlich dessen Forderungen waren, zeigt die Tatsache, daß Hirohito letzten Endes  - unter Beschneidung seiner Rechte − japanischer Kaiser bleiben durfte. Der amerikanische Präsident, so scheint es, wollte im Sommer 1945 keinen Verhandlungsfrieden.

Zweitens hätte Truman den sich anbahnenden Kriegseintritt der Sowjetunion abwarten können. Alle wichtigen westalliierten Experten gingen davon aus, daß ein Einfallen der Roten Armee auf einer japanischen Insel den Krieg beenden würde. Pikanterweise soll Truman vor allem deshalb zur Potsdamer Konferenz gereist sein, um Stalin zur Kriegserklärung an Japan zu bewegen. Nachdem dieser Entgegenkommen signalisiert hatte, schrieb Truman erfreut in sein Tagebuch: "Ab 15. August macht er im Krieg gegen die Japsen mit. Dann sind die Japsen perdu."

Drittens wurde nicht versucht, die Auslöschung Hiroshimas und Nagasakis durch moralisch unbedenkliche Militäroperationen zu vermeiden. Weder haben die US-Luftstreitkräfte eine Sprengbombenoffensive gegen solche militärischen Ziele gestartet, deren Vernichtung ebenfalls zu einer raschen Kapitulation hätte führen oder eine vielleicht unvermeidbare Invasion zumindest hätte erleichtern können, noch haben sie die zerstörerische Kraft der Atombombe zunächst über militärischen Zielen fernab menschlicher Siedlungen demonstriert. Präsident Truman folgte seinem Außenminister James F. Byrnes, der gegen die Empfehlungen fast aller Präsidentenberater den Einsatz der Horrorwaffen durchsetzte (Gar Alperovitz).

Mindestens so verwerflich wie der Abwurf der Uranbombe "Little Boy" auf Hiroshima ist die Auslöschung Nagasakis mit der Plutoniumbombe "Fat Man". Warum wurde Japan nach dem ersten Atomschlag keine Bedenkzeit von mindestens zwei Wochen zur Annahme der Kapitulationsforderung eingeräumt? Die ebenso banale wie beunruhigende Antwort: "Um Stalin und der Welt zu zeigen, daß die erste Bombe nicht die einzige war" (Florian Coulmas). Immanuel Kants kategorischer Imperativ: "Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als auch in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst", wurde in Tokio, Hiroshima und Nagasaki wie zuvor in Dresden, Hamburg und Pforzheim von einer grauenhaften Instrumentalisierung des Menschen verdrängt.

Was mag Truman und Byrnes von der atomaren Luftkriegsstrategie überzeugt haben? Das Argument, die "Logik des Krieges" führe zwangsläufig zum Verbrauch verfügbarer Waffensysteme, geht schon deshalb fehl, weil maßgebende amerikanische Militärs die Bombardements ablehnten. Entrüstet schrieb Admiral William D. Leahy, Vorsitzender der Vereinigten Stabschefs der US-Army: "Der Einsatz dieser barbarischen Waffe in Hiroshima und Nagasaki brachte in unserem Krieg gegen Japan keine materielle Unterstützung. Dadurch, daß wir sie als erste benutzten, machten wir uns den ethischen Maßstab zu eigen, der den Barbaren des finstersten Mittelalters gemein war. Man hat mir nicht beigebracht, Krieg auf diese Weise zu führen; und Kriege kann man nicht dadurch gewinnen, daß man Frauen und Kinder vernichtet."

Berauscht von einem Atomtest in der Wüste von Nevada am 16. Juli 1945, wollte der US-Präsident die "Beute" Japan im letzten Moment wohl nicht mit Stalin teilen - unterstellt man zu seinen Gunsten, daß er sich auch als demokratischer Staatsmann in der Pflicht sah. Nach den zweifelhaften Erfahrungen westlicher Politiker mit Nachgiebigkeit gegenüber der Tyrannei mag Truman alles versucht haben, stalinistischen Terror in einem von der Roten Armee besetzten Japan und die Entstehung einer weiteren, kommunistischen Nachkriegsdiktatur zu verhindern. 

Rechtfertigen kann das die Atombombenabwürfe nicht. Wie kein anderes Geschehen demonstrieren sie den Albtraum einer Massentötung mit den Mitteln der Hochtechnologie. Der Präsident eines den Menschenrechten verpflichteten Verfassungsstaats mißachtete das Leben unschuldiger Japaner, die er spätestens seit dem Überfall auf die US-Kriegsmarine in Pearl Harbor für "Wilde" hielt. Nach dem Krieg versuchte Truman, sich mit Hinweisen auf gerettete amerikanische Soldaten zu rechtfertigen, schlagzeilenträchtig am 28. April 1959 in der Columbia University: "Der Abwurf der Bomben hat den Krieg beendet, Millionen von Leben gerettet." Seine spekulativen Angaben werfen die Frage auf, mit welcher Heeresstärke die Amerikaner im Invasionsfall hätten kalkulieren können.

Auf der Basis von Trumans letzter Aussage wären das wohl zwanzig Millionen Soldaten gewesen − eine unrealistische Kategorie. Zudem hat sich der Präsident vor "Hiroshima" offenbar kaum mit Folgenabschätzungen gequält − erst recht nicht mit der in etwa vorhersehbaren Zahl japanischer Opfer. 

Der große philosophische Aufklärer des 20. Jahrhunderts und US-Weltkriegsteilnehmer im Pazifik, John Rawls, äußerte dazu: "Im Lichte dieser ethischen Grundsätze waren sowohl der Abwurf von Brandbomben über Tokio und andere japanische Städte im Frühling 1945 als auch der Abwurf von Atombomben über Hiroshima und Nagasaki, beides primär Angriffe auf die Zivilbevölkerung, sehr schwere Vergehen, und so werden sie heute auch weithin, wenn auch nicht allgemein, gesehen."

Foto: Uhr aus Hiroshima zeigt Zeitpunkt der Atombomben-Detonation: Barbaren des finstersten Mittelalters


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen